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Object: H:Kracauer, Siegfried/01.05/Klebemappe 1926 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Zu Franz Kafkas Nachlaßroman. 
Von Dr. S* Krakauer. 
Der von Max Brod aus dem Nachlaß Franz Kafkas 
herausgegebene Roman: „D asSch k 0 ß" ( Kurt Wolfs, Mün 
chen), dessen erstes Kapitel seinerzeit in der „Frankfurter 
Zeitung" veröffentlicht wurde, ist wie das größere Wert 
Kafkas: „Der Prozeß" die Matrize eines Märchens, In dem! 
„Prozeß" wird der Bankbeamte K. einem Gerichtsverfahren 
unterworfen, das so geartet ist: man kennt den Gerichtsherrn 
nicht, der Grund der Anklage ist verhüllt, und als der allein 
faßbare Gegenstand bleibt das Verfahren selber, dessen Qual 
endlos dauert. In dem „Schloß" wird K. als Landvermesser 
nach einem Dorf berufen, das den Aufsichtsbehörden des ober 
halb der Siedlung gelegenen Schlosses untersteht. Es wäre 
also nur der Weg zwischen dem Dorf und dem Schloß Zurück- 
zulegen, damit der Neuankömmling K.. sich über seine Pflich 
ten und Rechte vergewisserte. Eben diesen kleinen Weg kann er 
nicht durchmefsen. Seine Versuche und ihr Scheitern sind der 
Inhalt des Romanfragments. 
Wie in dem „Prozeß" die Richter nicht erreichbar sind, so 
ist hier das Walten der Schloßbeamten dem dörflichen Ver 
ständnis entzogen. Gewiß, die Beamten regeln die Angelegen 
heiten der Ortsbewohner, unterhalten gar sexuelle Beziehungen 
mit den Dorfmädchen, aber nicht der schmalste Pfad führt aus 
der Niederung zu ihrer Höhe. Schwierigkeiten ohne Zahl, die 
so nur der einzige Kafka ausklügeln kann, setzen sich dem 
Drängen K.s nach einer Verbindung mit der Behörde Entgegen. 
Einmal steht er einen Beamten; der schläft. Seine Bestallung 
zum Landvermesser erweist sich als ein Irrtum, der aber doch 
vielleicht kein Irrtum war, sondern unergründliche Absicht. Dre 
Briefe, die ihm von dem Vorgesetzten Beamten zugehen, sind bei 
näherem Zusehen veraltet und stammen am Ende gar nicht von 
ihrem Unterzeichner. Der Ueberbringer hat einen ordnungs 
gemäßen Botenauftrag niemals empfangen.. Stets werden die 
--- Rudolf ValeMno. Der seit kurzem Verstorbene tritt tu dem 
I Film: .Der Adler" auf, den die Neue Lichtbühn« und 
die Kammer.Lichtspiele zeigen. Das einzig Positive 
des Films ist die Schönheit seines Helden. Er ist wirtlich schön, 
obgleich er nicht intelligenter aussieht, wenn er die Stirne 
kräuselt. Das gibt ihm einen angestrengten Zug, man merkt, daß 
sich Schönheit und Verstand schwer nur vereinen lasten. Auch die 
griechischen Statuen sind mehr klassisch als von der Vernunft be 
seelt. Kür ihren Ausfall entschädigt Valentins durch seine Rein 
heit und seinen Edelmut. Er flieht die ältliche 
Zarin, die ihn zu einer Liebesnacht mißbrauchen 
möchte, und verzichtet auf die Rache an seines 
Vaters Feind um der Liebe zu seiner Tochter willen. Auch als 
Rüuberhauptmann hilft er natürlich den Armen. Dies« Ereignisse 
spannen ebenso wenig, wie die russischen Dekorationen echt sind. 
Für das Schlepptempo und die Ohnmacht der Handlung ist 
jedenfalls die bloße Schönheit eines Darstellers, der sonst nichts 
darstellen kann, keine Entschuldigung. Kaco. 
TU , — 
mag nach der psychoanalytischen Lehre sich selbst oder sein 
Gegenteil bedeuten. So meint auch die von der Wahrheit ab 
geschnittene Welt das manifeste Wahre, die Matrize des 
Märchens das Märchen, 
Seine Züge trägt der Roman. Wie das Märchen die dem 
Anschein nach unverrückbare natürliche Ordnung zersprengt, um 
die Dinge an den richtigen Platz zu stellen, den ste von Natur 
aus gar nicht einnchmen, so hebt er die gewohnten Zusammen 
hänge auf und verschiebt die nunmehr vereinzelten Gegenstände, 
damit sie ihre Rückenansicht dem Beschauer Zuwenden; denn 
gerade die Unzugänglichkeit ihrer Vorderansicht, die erst die 
wahre wäre, soll dargetan werden. Der Roman kehrt die nor 
malen TagesLilder und Oberflächmbeziehungen um, vielmehr 
er verkehrt sie nicht eigentlich, sondern gleitet über sie hinweg, 
als seien ste nicht vorhanden, und setzt an ihre Stelle ein 
Mosaik von Tatsachen und Begründungen, das die vertrauten 
Gegebenheiten völlig verdrängt. Im Märchen reden die Tiere, 
wenn die Enthüllung der Wahrheit es fordert; im „Schloß" 
entfernt sich die um Aufklärung bemühte Menschenrede nur 
immer weiter von ihrem Ziel. Die einfachsten menschlichen 
Verhältnisse, Haltungen und Leistungen, so die Liebe Friedas 
zu K., die Weigerung Amaliens, sich dem Herrn vom Schloß 
hinzugeben, die Erledigung eines Botendienstes, die Ver 
nehmung zu Protokoll — diese eindeutigen Bestimmtheiten, 
Leren Ablauf nicht zweifelhaft sein dürfte, entwickeln sich, wenn 
sie durchgeführt werden, in skurrilen Bahnen, die in Sackgassen 
Enden oder doch stets ableiten von dem erstrebten Ende. Die 
Lebenserfahrungen, die als Gewißheiten gelten, sind hier das 
Allerungewisseste, die organische Einheit des Menschen ist auf 
gelöst, das Leichte wird schwer. Fragmente von Liebe und Ge 
meinheit, spitzfindige Beweise, die sich ins Unabsehbare er 
strecken, Situationen, die weder den erwarteten Sinn noch den 
Gegensinn in sich tragen, sondern einen anderen verdeckten 
— lauter Teilstücke des alten Lebens sind herausgegriffen und 
in verstellter Reihe miteinander verbunden. Nur aus der ein 
zigen Perspektive des ungegsbenen Wahren erschienen sie in 
der richtigen Ordnung. 
Daß das Wahre nicht in diese Welt eintritt, taucht sie in 
Line Angst, die dem Märchenglück entgegengesetzt ist. Die 
Hexe frißt im Roman wirklich HLnsel und Gretel; jene Angst, 
an die keine andere Angst reicht: daß M Wahrheit verschüttet 
sei, umhüllt die Erscheinungen und Gespräche. Allein der 
Träumende kennt sie vielleicht, der im Traum Zerfallene Mensch, 
der den nicht nur durch das Spiel der Triebe verrückten Da- 
semselemmLen preisgegeben ist. Der Mensch, der in das Antlitz 
der Meduse blickt, wird nach mythologischer Vorstellung ver 
steinert; der Jude Kafka trägt das Entsetzen in die Welt, weil 
sich ihr das Antlitz der Wahrheit entzieht. Böte es sich: sie 
müßte irrsinnig werd m vor GWL 
Volk m NoL» Dieser Film, den die „Alßwannia- 
Lichtspiele" zeigen, rekapituliert den Krieg. Die Schlacht- 
ereignifle im Osten — der Vorstoß Rennenkamps, die Schlacht bei 
Tannenberg — entfalten sich als Hintergrund einer kleinen 
Privathandlung, in der eine ostpreußische Gutsbesitzerin, ihr Sohn 
und ihre Nichte, jener natürlich Ulanenleutnant, diese natürlich m 
ihn verliebt, die Hauptrollen spielen. Vielleicht ist auch umge^hrt 
die Privathandlung der Hintergrund. Jedenfalls gibt es überall 
Militär zu sehen, deutsches und russisches, und auch die Russen 
sind zum Teil edel. Einer ist es sogar sehr, aber er hatte eine 
deutsche Mutter. Der Film ist unter Aufsicht einiger deutscher - 
Militärs hergestellt, die für seine Richtigkeit bürgen. Von den 
Schlachten ist freilich nicht viel mehr zu sehen als Soldaten, die 
anrücken, und Soldaten, die fliehen. Was sie bedeuten, verrat der 
Text, der von breiter Ausführlichkeit ist. Auch sonst ist vieles zu 
gedehnt, das Stück hat rein als Film Schwächen. Im übrigen 
vertritt es die konventionellen Auffassungen von Militär und Krieg 
und stellt die konventionellen Gefühle der Menschen aus mittleren 
Romanen dar Dem läßt sich nicht widersprechen, das Publikum 
will befriedigt sein. . 
Pfeile, die von unten nach oben zielen, zur Umkehr gezwungen, 
und während sie niedcrgehen, beschreiben ste ver.chlungene 
Kurven wie Schlangen. Die Unmöglichkeit eines Einblicks in 
die Ratschlüsse der thronenden Beamtenschaft, die klar und hell 
sein mögen, wird durch die Unentwirrbarst der Zusammen 
hänge im Dorf unterstrichen. Dem K. sind vom Schloß zwei 
einander Zum Verwechseln ähnliche Gehilfen beigcgeben, die 
lauter Unfug stiften und Muster von Kobolden sind. K.s Hand 
lungen, die vernünftig scheinen, sind Zuletzt unvernünftig, die 
Liebe der Kauen kommt zu ihm ohne Bestimmung und verläßt 
ihn ohne Grund. Der Ausgang aus dem Labyrinth wäre das 
Schloß, nach dem hin es sich nicht öffnet. 
Die am Tag liegende Deutung, daß der Roman das Ver 
hältnis der Menschen zur göttlichen Lenkung gleicknishaft dar- 
stelle, trifft weder seinen Sinn noch die von ihm bedingte Form. 
Meinte er das göttliche Gerichts- und Gnadenverfahren, so 
könnte er die unsichtbare höchste Stelle nicht an einen Ort des 
Grauens verlegen und den Instanzenweg zu ihr hin nicht als 
eine Folge kleiner Schrecklichsten entlarven. Wie verschieden 
immer die Theologie die Uebernatur in die Natur hat ein 
greifen lassen, sie hat mit Notwendigkeit die Vorsehung niemals 
gegenden Menschen gesetzt oder ihr konstitutives Verborgen 
sein zum Grunde des äußersten menschlichen Leidens gemacht. 
So drohend starrt die Hölle nur in das Leben herein. Aber 
auch sie fällt bei Kafka äus, denn das Dasein der Verdammten 
ist an das der Erlösten geknüpft,' die der Dichter nicht kennt. 
Das von ihm Gemeinte liegt hinter und unter den gestaUhaften 
theologischen Kategorien des Gerichts, des Paradieses, der 
Hölle: es ist die Abgesperrtheit des Menschen 
von der Wahrheit. 
An den Märchen der Völker wird am Ende die Wahrheit 
offenbar. Nichts anderes sind die reinen Märchen als der Vor- 
Lraum des vollendeten Einbruchs der Wahrheit in die Welt. 
Er erfolgt gegen die blinden Naturgewalten, die unterliegen 
müssen. Der dumme Tölpel führt die Prinzessin heim, die dem 
Mächtigen sicher schien, dämonische Zauberei kann den Stand 
haften nicht verblenden, Hexenspuk und die Bollwerke des Ver 
derbens werden durch das gerechte Urteil getilgt. Die Märchen 
sind nicht Wundergeschichten, sondern ihr Sinn ist die Auf 
hebung der mythologischen Kräfte und d'e Abschaffung des 
Wunders um der Wirklichkeit der Wahrheit willen. Ihr 
Sieg allein ist das Wunderbare. 
Genau die Matrize des Märchens ist der Roman 
Wie kaum -ein anderer vor ihm blickt auf das End 
menschlicher Geschichte hin, das in der Wahrheit ist. Ihre 
Nichtverwirklichung ist sein Thema. Damit aber, daß er d'e 
Verstelltheit des Irdischen aufdeckt, das von de^ Wahr 
heit verlassen ist, macht er diese nicht minder wie das Märchen 
i;ur Mitte. In den ältesten Sprachen sind die Gegensätze durch 
! das nämliche Wort ausgedrückt worden, ein Traumelement
	        
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