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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.06/Klebemappe 1927 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

südlichen Ländchens hat sich aus Paris eine Geliebte heimgeholt, 
die ein amerikanischer Milliardär unter seinen Besitztümern wünschte. 
Sie zu gewinnen, kauft der Milliardär unzufriedene Volksmassen 
und besticht den königlichen General. Rasch wird ein patriotischer 
Ausstand inszeniert. Die Maschinengewehre setzten sich in Tätigkeit, 
auf den Straßen und Plätzen bilden sich malerisch verteilte Leichen. 
Der General kann dem Milliardär melden, daß durch die Gefangen 
nahme des Königs das Mädchen frei geworden sei; er steht vor 
seinem Geldgeber in der servilen Haltung eines Kammerdieners. 
So würden also Putsche und Blutbäder auf Veranlassung des 
! Großkapitals an gerichtet? Der Film ist verrückt. Er schildert die 
Ereignisse, wie sie tatsächlich verlaufen, statt ihnen die Würde zu 
erhalten, die sie ermöglicht. Gottlob strahlt der Film sofort wieder 
mit roten Wangen. Der Amerikaner nämlich ist in Wahrheit ein 
guter Mensch, der seine Milliarden zu Recht besitzt. Nachdem er 
erfahren hat, daß die Pariserin ihrem Geliebten die Treue wahrt, 
befreit er den Exkönig aus dem Gefängnis und schickt das glück 
liche Paar auf die Hochzeitsreise. Liebe ist stärker als Geld, wenn 
! das Geld Sympathien gewinnen soll. Die kleinen Ladenmädchen 
I hatten sich geängstigt. Nun atmen sie auf. 
Kilm und Gesellschaft. 
Vchluß der Serie: Die kleinen La den Mädchen 
gehen ins Kino.^) 
Von Raea. 
Die Filme sind der Spiegel der besteh Eden Gesellschaft. 
Sie werden aus den Mitteln von Konzernen Lestritten, die 
zur Erzielung von Gewinnen den Geschmack des PublikumA 
um jeden Preis treffen müssen. Das Publikum seht sich 
gewiß auch aus Arbeitern und kleinen Leuten zusammen, die 
Wer die Zustände in den oberen Kreisen räsonnieren, und 
das Geschäftsinteresse fordert, daß der Produzent die gesell- 
schaftskritischen Bedürfnisse seiner Konsumenten befriedige. 
Niemals aber wird er sich zu Darbietungen verführen lassen, 
die das Fundament der Gesellschaft im geringsten angreifen: 
er vernichtete sonst seine eigene Existenz als kapitalistischer 
Unternehmer. Ja, die Filme für die niedere Bevölkerung sind 
mach bürgerlicher als die für das bessere Publikum; gerade, 
weil es Lei ihnen gilt, gefährliche Perspektiven anzudeuten, 
ohne sie zu eröffnen, und die achtbare Gesinnung auf den 
Zehenspitzen einzuschmuggeln. Daß die Filme in ihrer Ge^ 
samtheit das herrschende System bestätigen, ward an der Er 
regung über den P otemkin - Film offenbar. Man empfand 
sein Anderssein, man bejahte ihn ästhetisch, um das mit ihm 
Gemeinte verdrängen zu können. Ihm gegenüber vergingen 
die Unterschiede zwischen den einzelnen FiMgattungen der 
deutschen oder auch amerikanischen Produktion, und es erwies 
sich bündig, daß diese Produktion die einheitliche Aeußerung 
der einen und gleichen Gesellschaft ist. Die Versuche mancher 
Regisseure und Autoren, sich von ihr loszusagen, haben von 
vornherein keine Chance. Entweder sind die Aufsässigen, ohne 
es zu wissen, nur Attrappen der Gesellschaft, die sie am Gängel 
band führt, während sie sich zu empören glauben, oder sie 
werden aus Selbsterhaltungstrieb zu Kompromissen ge 
zwungen. (Chaplin sogar endet im „Goldrausch" als Millionär, 
ohne ein richtiges Ende zu finden.) Die Gesellschaft ist viel 
zu mächtig, um andere Bildstreifen als die ihr genehmen zu 
gestatten. Der Film muß sie spiegeln, ob er will oder nicht. 
Aber ist es wirklich die Gesellschaft, die sich in der Film 
kolportage Zeigt? Diese rührseligen Rettungen, dieser unmög 
liche Edelnmt, diese jungen glatten Gents, diese monströsen Hoch 
stapler, Verbrecher und Helden, diese moralischen Liebes- 
Rächte und unmoralischen Eheschlüsse: gibt es sie wirklich? 
Es gibt sie wirklich, man lese die Generalanzeiger. Kein 
Kitsch kann erfunden werden, den das Leben nicht überträfe. 
Die Dienstmädchen benutzen nicht die Liebesbriefsteller, sondern 
diese umgekehrt sind nach den Briefen der Dienstmädchen 
komponiert, und Jungfrauen gehen noch ins Wasser, wenn sie 
ihren Bräutigam untreu wähnen. Filmkolportage und Leben 
entsprechen einander gewöhnlich, weil die Tippmamsells sich nach 
den Vorbildern auf der Leinwand modeln; vielleicht sind 
aber die verlogensten Vorbilder aus dem Leben gestohlen. 
Dennoch soll nicht bestritten werden, daß es in den meisten 
Gegenwartsfilmen unwahrscheinlich hergeht. Sie färben die 
schwärzesten Einrichtungen rosa und überschmieren die Röte. 
Darum hören sie nicht auf, die Gesellschaft zu spiegeln. Viel 
mehr: je unrichtiger sie die Oberfläche darstellen, desto richtiger 
werden sie, desto deutlicher scheint in ihnen der geheime Mecha 
nismus der Gesellschaft wieder. Es mag in Wirklichkeit nicht 
leicht geschehen, daß ein Scheuermädchen einen Rolls Royce 
Besitzer heiratet; indessen, ist es nicht der Traum der Rolls 
Royce-Besitzer, daß die Scheuermädchen davon träumen, zu 
ihnen emporzusteigen? Die blödsinnigen und irrealen Film 
phantasien sind die Tag träume der Gesellschaft, 
in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre 
sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten. (Die Tatsache, daß, 
wie in der Buchkolportage, so auch in der Filmkoltzortage große 
Sachgehalte sich verzerrt mit ausdrücken, verschlägt in diesem 
Zusammenhang nichts.) Daß die Mitglieder der höheren und 
nächsthöheren Stände ihr Porträt in den Jilr ^n nicht er- 
kennen, ist kein Einwand wider die Aehnlichkeit der Photo 
graphie. Sie haben Grund, nicht zu wissen, wie sie aussehen, 
und wenn sie etwas als unwahr bezeichnen, ist es nur um so 
i wahrer. 
Auch in solchen Filmen noch, die in die Vergange n - 
heit schweifen, gibt sich die heutige Umwelt zu erkennen. Sie 
kann sich schon darum nicht immer betrachten, weil sie sich 
nicht von allen Seiten betrachten darf; die Möglichkeiten un- 
anstößiger Selbstdarstellungen sind begrenzt, während das Ver 
langen nach Stoffen unersättlich ist. Die vielen historischen 
Filme, die nur das Gewesene illustrieren (nicht etwa wie der 
Potemkin-Film die Gegenwart in historischem Gewand) sind 
ihrer eigentlichen Bestimmung nach Blendungsversuche. Da 
die Verbildlichung von Zeitereignissen stets Gefahr läuft, die 
leicht erregbare Menge gegen mächtige Institutionen einzu- 
nehmen, die in der Tat oft nicht einnehmend sind, richtet man^ 
die Kamera lieber auf das Mittelalter, an dem das Publikum 
sich unbeschädigt erbauen mag. Je weiter zurück die Handlung 
liegt, desto tollkühner werden die Filmleute. Sie wagen es, 
Revolutionen in historischen Kostümen zum Sieg zu verhelfen, 
um die modernen vergessen zu machen, und befriedigen gerne 
das theoretische Gerechtigkeitsgefühl durch die Verfilmung 
längst verschollener Freiheitskämpfe. Douglas Fairbanks, der 
ritterliche Gönner der Unterdrückten, zieht in früheren 
Hunderten gegen eine Gewaltherrschaft zu Feld, deren Fort-! 
dauer heute keinem Amerikaner mehr nutzt. Der Mut der Filme 
verringert sich direkt proportional mit dem Quadrat der An-! 
Näherung an die Gegenwart. Die geschätzten Szenen aus 
dem Weltkrieg sind keine Flucht ins Jenseits der Geschichte, 
sondern die unmittelbare Willenskundgäbe der Gesellschaft. 
Daß sie sich in den Filmen reiner als in Theater 
stücken spiegelt, erklärt sich schon allein aus der größeren An 
zahl der Vermittlungsglieder, die zwischen dem Dramatiker 
und dem Kapital eingeschaltet sind. Nicht nur jenem, auch 
den Intendanten wird es so scheinen, als sei man von diesem 
unabhängig, als könne man zeit- und klassenlose Kunstwerke 
produzieren. Man kann es nicht, aber immerhin ent 
stehen Gebilde, deren soziale Bedingtheit schwerer zu durch 
schauen ist als die von Filmen, die der Konzern-Direktor in 
Person überwacht. Vor allem die der intellektuellen (Ber 
liner) Bourgeoisie gewidmeten Lust- und Trauerspiele, ge 
hobenen Revuen und Regie-Kunstfertigkeiten stehen nur zum 
Teil noch ungebrochen innerhalb der Gesellschaft; ihr Publi 
kum liest am Ende eine radikale Zeitschrift und geht feinern 
bürgerlichen Beruf mit schlechtem Gewissen nach, um ein gutes 
zu haben. Auch die künstlerischen Qualitäten eines Theater 
stücks mögen es der Gesellschaftssphäre entrücken. Zwar, 
Dichter sind häufig dumm, und wenn sie auf der einen Seite 
der üLerkowM'enen Gesellschaft absagen, gehen sie ihr auf 
der anderen um so gründlicher auf den Leim. (Bert Brecht 
hat in der „Literarischen Welt" die Lyrik der Vürgerlichkeit 
verdächtigt und an ihrer Stelle dem Sport sich verschrieben. 
Der Sport als unbürgerliches Phänomen — Samson-Körners 
Biograph ist um diese Entdeckung nicht zu beneiden.) Von 
solchen Ausnahmen abgesehen, die sich einem Teil der Bin 
dungen bewußt entziehen, ist im übrigen das Gros der 
Bühnenmachwerke die genaue Antwort auf die Empfindungen 
von Theatergemeinden und dem Bestehenden nicht minder ver 
pflichtet als die Filme, von denen es sich nur durch die größere 
Langeweile unterscheidet. z 
Um die heutige Gesellschaft zu erforschen, hätte man also 
den Erzeugnissen ihrer Filmkonzerne die Beichte abzunehmen. 
Sie plaudern alle ein unzartes Geheimnis aus, ohne daß sie 
es eigentlich möchten. In der unendlichen Reihe der Filme 
kehrt eine begrenzte Zahl typischer Motive immer wieder; sie 
zeigen an, wie die Gesellschaft sich selber zu sehen wünscht. 
Der Inbegriff der Filmmotive ist zugleich die Summe der 
gesellschastlichen Ideologien, die durch die Deutung dieser 
Motive entzaubert werden. Die Serie: „Die kleinen 
Ladenmädchen gehen ins Kino" ist als ein kleines 
Musteralbum angelegt, dessen SHulfalle der moralischen 
Kasuistik unterworfen sind. 
*) Die Serie ist in den Abendblättern vom 11- bis M März 
N dieser Reihenfolge veröffentlicht worden: „Freie Bahn", 
^Geschlecht und Charakter", „Volk in Waffen", 
»Die Weltreisendsn", „Das goldene Herz", „Der 
Moderne Harun alRaschid", „Stille Tragödien", 
an der Grenze". _
	        
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