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Metadata: H:Kracauer, Siegfried/01.06/Klebemappe 1927 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Die Intellektuellen fühlen sich trotz zerschlissener Ueberröcke 
nicht geächtet, noch sind Schonungen ausgespart für die Aerm- 
lichkeit und die feineren Regungen. Es gibt auf dem Mont- 
parnasse und in den Avantgarde-Theatern ein (freilich inter 
national gesprenkeltes) Publi-um, das aus einzelnen Menschen 
besteht, und auf den oberflächlichen Eindruck hin sei die Be 
hauptung gewagt, daß diese einzelnen Menschen einen Körper, 
eine Seele und einen Geist besitzen, die eine erträgliche Ver 
bindung miteinander unterhalten. In dem München der Vor- 
lriegsjahre fanden sich in Konzerten und kleinen Schwabinger 
Lokalen Versammlungen solcher Art; sie scheinen aus dem 
öffentlichen deutschen Leben inzwischen verschwunden zu sein. 
Ich habe Gruppen junger Menschen gesehen, die Abkömm 
linge jenes unvergeßlichen Freundeskreises sind, den Balzac 
in den „Illusion« psräuos" verherrlicht hat: eine Zu 
neigung, die nicht nur Kameradschaft ist, ein nahezu 
asketischer Fleiß und die edle Haltung, in der sich Esprit 
und Naturüegabtheit unlöslich einen, sind die Kennzeichen 
der Verbündeten. Hier wird das Kleine groß, und selbst der 
Erffelturm nicht, geschweige denn irgend ein ander r Turm 
in der Welt, vermöchte den weit gespannten Bogen zu durch 
stoßen, der von Mensch zu Mensch sich dehnt. Das gibt es, 
noch. Von innen gewahrt man die Grenze nicht, und was 
der Außenstehende altmodisch heißt, ist zu einem Teil un 
vergänglich. (Zum anderen Teil hat er recht.) 
Glanz über den Affärep, 
Aus Gesprächen mit jungen Katholiken verschiedener 
Lager geht hervor, daß diese wichtigen Jugendgruppen zu 
den grundlegenden politischen und sozialen Fragen nicht das 
gleich: unmittelbare Verhältnis haben wie im allgemeinen 
die deutschen Die Mitglieder der „Revue <ies llsuves", die 
erfolgreiche Abendkurse in praktischen Fächern verunstalten, 
arbeiten bei der Lösung der Tagesprobleme von Fall zu Fall 
mit verschiedenen politischen Parteien. Ein Student, der sich 
p^uem»MLMörig fühlt, äußerte mir: «Nur, kein Zentrum!" 
Die ganz auf daS Individuelle gerichtete Gruppe um 
Maritain, Claudel, Cocteau entriete bei uns der Aktualität, 
die sie in Paris besitzt. (Als Claudel gefragt wurde, 
warum er, trotz feines dichterischen Schaffens, den Gesandt 
schaftsPosten in Washington angenommen habe, soll er ge 
antwortet haben: „hjus vouls^-vnus? 6'est lorKneU,." 
Das Wort ürZuM ist unübersetzbar, die ganze französische 
Gesellschaft steht dahinter.) Gewiß ermangelt dieses politisch 
leicht erregbare Volk des politischen Interesses nicht, indessen 
das politische oder gar das soziale Interesse tritt nicht nackt, 
hervor. Die ökonomische Struktur des Landes, die eK zu 
lichen Bedürfnisse und Proportionen offenbar. Mag es an! 
der geographischen Beschaffenheit liegen oder an der uralten! 
Kultivierung des Bodens unter der warmen Sonne: die 
Natur felber hat die Grenzen des Menschlichen anerkannt, 
sie ist überschaubar und hat Form, sie ist ein Kleid, das gut 
sitzt. Die Bäume sägen sich aus eigenem Willen zu Alleen, 
dir Landschaft ist schon einmal in einem Atelier gewesen. Es 
gibt Untiefen in ihr, die van Gogh aus sich herausgeholt 
Hai, sie glänzt an der Azurlüste unirdisch verklärt, aber nie 
mals steigert sie sich ins Uebermenlchliche. Das Humane ist 
Natur, die Natur humanisiert. Aus solcher Bindung an das 
Menschliche, der auch das bloß Gewachsene sich nicht entzieht, 
erklärt sich die Kleinheit der Maße. Klein srrilich dünken sie 
nur denen, die aus den Schranken ausgrbrochen sind. Der 
Amerikaner hält Berlin für ein Puppenspielz.ug, der Ber 
liner fühlt sich in Paris eingeengt. Darum nennt ihn der 
Franzose noch lange nicht groß. Er schilt die Deutschen 
barbarisch, weil ihm, zu Recht oder zu Unrecht, auch die Er 
scheinung des Großen in einem Verhältnis zum Menschlichen 
steht. Die aus dem abstrakten Denken geborenen konstrukti 
vistischen Würfel aber, die mit dem Lineal gezogenen Büro 
fluchten haben sich aus der menschlichen Nähe entfernt, sind 
aus einem Kreis herauSgetreten, dessen Kontur in PariS 
als eine Art von Banlieue stets gespürt werden mag. (Was . 
nicht hindert, daß in Deutschland die Mechanisierung vielleicht - 
auch eine menschliche Notwendigkeit ist.) In dem franzö 
sischen Kleinrentnertum stellt sich nicht nur der schlechte Bour 
geois dar, sondern eine ursprünglich anspruchslose, in sich 
beruhigte Natur, die sich nicht unnötig vergroß rn will. Man 
interessiert sich wenig nur für die kulturellen Vorgänge außer 
halb der Landesgrenzen, zu Goethe werden sie vielleicht an 
läßlich des Faust-MmS wieder einmal greisen (wenigstens 
empfahl dies ein Kritiker). Frankreich ist ihnen Paris, Paris 
die Mitte der Welt, und in der Mitte sind sie gern unt r sich. 
So wird das materiell abträgliche Ausbleiben der Fremden 
feit einiger Zeit mit Genugtuung verzeichnet. Ein Boule 
vard-Blatt schreibt: „Auf dem Montmartre haben- sechs 
Eabarets schließen müssen. Vielleicht wird bald wieder ein 
Pariser den Montmartre besuchen können." Diese srnwMge 
Beschränkung artet nicht selten in Selbstzufriedenheit aus, 
der Mangel an Neugierde wird zum Laster. Doch bleibt im 
ganzen durch die Bindung an die natürlich menschlichen 
Proportionen alles uns VerlorMe bewahrt. Gehobene deutsche 
Schriftsteller kolportieren hie und da, daß den Franzosen das 
Gemüt fehle, sozusagen die Seele. Manche haben sie richtiger 
slS manche Deutsche, bei denen sie übermäßig quillt oder auf 
HZM Weg von der Sitzung zur Bar abhanden gekommen ist. 
! sozialen Kontrasten von der Schärfe und Massenhaftigkeit der 
unsrigen noch nicht hat kommen lassen, mag ein Grund für 
die Verhülltheit zumal des Wirtschaftspolitischen sein. Der 
andere Grund ist vermutlich jene Hast in dem mittleren 
Menschlichen. Je breiter die Fläche, die zum Aufruhen dient, 
desto unangetasteter bleiben die Fundamente. Die größere 
Naturmitgist der Franzosen wäre schon daraus abzulesen, 
daß sie über das Natürliche weniger diskutieren als etwa die 
deutsche Jugendbewegung. So spricht auch die geringere Be 
rücksichtigung des OekonomischLn in den Intelligenz-Kreisen 
dafür, daß die Krise noch vor der Tür steht, die bei uns auf- 
geslogsn ist. .Sie dürfen sich vorläufig in den oberen Prunk 
gemächern des Geistes aujhalten, während die Geistigen in 
Deutschland nach unten gezogen werden — wenn sie Geistige 
sind. D:r Nationalismus, den die „Kation krnn- 
d-iss" täglich herauSbellt, hat eine eigene Substanz, die ein 
Deutschvölkischer rächt mehr aufbrächte. Was bei uns, infolge 
der zugespitzten ökonomischen Situation, als Ideologie längst 
durchschaut ist, überzeugt drüben, infolge des festeren Unter 
grunds, als geistiges Manifest. Von den Lettern auf dem 
Versailler Schloß: toutss las Zloires cks tu Rrsocs" 
ist das Gold nicht ganz abgegangen. Ernsthafte Menschen, die 
Daudet einen Narren nennen, streiten sich stundenlang wegen 
der „Motion krnnguiss", und einer, der sie nicht liebt, be 
hauptet gar, daß sie das einzig: Blatt für Intellektuelle sei. 
Auch die Katholiken, die ihr fern, stehen, wenden sich gegen 
ihre Jndizierung als eine unberechtigte Einmischung des 
Vatikans in die innere Politik. Das Nationale, selbst in 
dieser Form, scheint nicht nur Phrase oder der durchlöcherte 
Deckmantel sür Finanzoperationen, sondern die legitime Aus 
strahlung des gesamten Bestands an Natur und Kultur. 
Unter der Voraussetzung eines solchen nicht angetasteten Be 
stands werden Fragen des Privatlebens und zwischen- 
schichtlich: Probleme mit bessirem Rechte als bei uns in den 
Mittelpunkt gerückt. In dem Land der VAwUtG und — nach 
der Meinung des deutschen Durchschnitts — der Durch- 
schnittsmeinurMn bringen es die Anfechtungen der einzelnen 
zur öffentlichen Beachtung; in dem Land der Kierkegaard 
Schwärmer und der radikalen Protestanten beherrscht die 
Masse das Feld, Hier, wo in jedem Eichenwald ein Stadion 
dir Eichen aus einund erklängt (mit denen es sich im übrigen 
gut versteht) gerät das „moderne" katholische Schrifttum und 
jede Art von Innendekoration epigonal; drüben ist die.Kon- 
fefstonS-Literatur mittM in der Gegenwert. Durch die Hülle 
der Seelenmal-rei und des persönlichen Esprits schimm'rt 
natürlich das Soziale und Klassenmäßige hindurch, aber 
ihm ist nicht unmittelbar die Aufmerksamkeit zugekehrt, und 
es gilt auch nicht die blanke vulgär-marxistische Lehre, daß 
es sich bei diesen geistigen Gebilden rein um ableitbare Urber- 
bauten handle. Sie sind Ueberbauten, in der Tat, doch die 
Gehalte, die sie bergen, dauern in einer gewissen Unabhängig 
keit von der materiellen Basis; eben der wohlgegliedrrten 
Menschlichkeit wegen, die mit aus der Natur stammt. Diese 
Menschlichkeit läßt nicht zu, daß die Prinzipien mächtiger als 
die Personen werden. Kein Franzose ist fähig, die dogmatische 
Struktur des deutschen ParteiwessnS zu bcgreisen, und die 
marxistische Dialektik etwa macht nicht nur aus dialektischen 
Gründen vor dem französischen Bewußtsein Halt. (Ein fran 
zösischer Gewerkschafter, der vor einiger Zeit zu Besuch in 
Deutschland weilte, traf mich mit einem Band Marx in der 
Hand. Es war, als hätte er mich Lei einem Verbrechen über 
rascht, „Nur nicht immer diese Theorie," sagte er, „auf das 
Leben kommt es an, junger Freund.") Aus dem Gebiet der 
Politik selbst ist die Politik noch eingewickelt. Der Glanz des 
Redners breitet sich strahlend über die kahle Affäre, und ein 
Jchweißnichtwas hüllt alle Akten in durchsichtig: Porte 
feuilles (das „Lasterlorrelat" ist der Schlendrian bei Be- 
hördm). Nirgends ist das menschliche Milchprodukt ganz ent- 
substantialisiert. Daher an der Oberfläche — aber die Ober 
fläche ist wesentlich — die Skala der Uebergänge von dem 
Lumpenproletariat zu den Arbeitern, dem geringen Mittel 
stand und d:m Großbürgertum. Austern sind eine Volksspeise, 
und in den Theatern der Faubourgs, in denen der teuerste 
Platz fünf Francs kostet, treten Komiker auf, die jede Familie 
in Passy entzückten. Eine dünne Schicht angestammter und 
eroberter Humanität deckt die Blößen einstweilen zu. 
Kleine Gewitter. 
Wenn das Kleine groß ist und die konservative Haltung 
etwas Unvergängliches meint, muß die Starrheit immer 
wieder gelockert werden; geschehe es auch unmerllich sür die 
j an Revolutionen gewöhnten Augen. Das Ungeziefer nagt in 
der Tat an den Gerüsten der Hierarchie. Ein alter, sehr be 
kannter Professor erinnert: mich mit der Versicherung, deß 
die Nachkrieg.Sgenera.tion nichts mehr von ihm 
wisse» wolle, an seine beklagenswerten deutschen Leidensge 
fährten. Freilich sind seine Empfindungen, mit uns reu 
Matzen ^messen, vermutlich üLertrubsn, den» im großen und 
ganzen werden die Kämpfe doch noch auf einer gemeinsamen 
Plattform geführt. Es brauen, sich an verschiedenen Ecke» 
kleine Gewitterchen zusammen. Harmlose Radikale ziehen im 
Zeichen — Hölderlins.gegen die verführerischen Perioden und 
di: künstliche Armut der Sprache zu Feld. Proust hat mit 
jener Skepsis, die selber ein französisches Erbe ist, die Herr-
	        
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