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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.08/Klebemappe 1929 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

»Eis neuer Harry Viel. DaA HaupLrequistt des Harry« 
Piel-Film- der Neuen Ütchtbühne ist ein Motorrad. Ein 
von Harry selbst fabrtziertes Motorrad, das wie ein umständliches 
Tier auZsieht, und in einem fort faucht. Sonst faucht es freilich 
in den Film nicht; die Handlung ist vielmehr schleppend, und 
zwischen Einfall und Einfall sind lange Strecken unbelebt. Immer 
wieder muß das Motorrad Herhalden, fei es als Kraftquelle für 
ein phantastisches Experiment, sei es bei der Verfolgung einer 
Verbrecheröande. Sein größter Augenblick ist entschieden, wenn 
Harry auf ihm eine Treppenrampe heruntersaust — eine toll, 
kühne Sache, bei der er seinerzeit bekanntlich verunglückt ist. Die 
üöngen Sensationsleistungen sind zum Teil ganz nett erfunden» 
Harry selbst schmeckt wie ein Lutschbonbon: eine richtige Kol 
portagefigur. Jedenfalls ist er unterhaltender als der andere 
Harry, jener Liedtke, dessen Süße eher vom Sacharin stammt 
Gröberer in Kanton. 
Zu dem Buch von Andr6 Malraux. 
Von S» Kraeauer. 
Andrs Malraux: geboren 1901 in Paris. Vom fran- 
Zösichen Kolonialministcrium 1923 zu archäologischen Studien 
nach Kambodscha und Siam geschickt. Führer in der Partei 
Jung-Annam (1924). Kommissar der Kuomintang fürEcchin- 
china, dann für ganz Jndochma (1924/25). Stellvertretender 
Kommissar für Propaganda bei der Nationalistischen Regie 
rung in Kanton zur Zeit Borodins (1925). 
Der junge Franzose mit diesem vehementen Lebenslauf hat 
seine Erfahrungen in einem Buch niedergelegt, das unter oem 
Titel: „Eroberer. Rote und Gelbe im Kamps um 
Kanton" von Max Clauß, dem Schriftleiter der „Europäischen 
Revue" vorzüglich ins Deutsche übertragen worden ist (Kurt 
Vowinckel Verlag, Berlin-Grunewald). Es schildert jene denk 
würdige Epoche der chinesischen Revolution, in oer dir Dritte 
Internationale versucht hat, nach Sun-Aat-sens Tod die chine 
sische Nationalregierung bolschewistisch Zu organisieren. Ein 
Augenzeuge, mehr noch: ein Mitkämpfer berichtet über einen 
der dunkelsten Abschnitte der Zeitgeschichte. Der Bericht aber 
ist so bedrohlich ausgefallen, daß die Zensuröehörden Ruß 
lands und Italiens sich genötigt gesehen haben, ihn zu ver 
bieten. 
* 
Das Buch ist weder eine Reportage noch ein Roman; viel- 
mchr sind beide Formen der Darstellung in ihm zu einer dr tten 
neuen derscknulz-m. Stellenweise enthält es Beschreibungen 
und lokale Bestandsaufnahmen, die wie die Tagebuchaufzeich 
nungen eines erfahrenen Korrespondenten anmuten, der zu 
Beobachtungen ausgeschickt worden ist. Aber die Wiedergabe der 
Tatsachen wird stets durch ihre freie Verdichtung durchbrochen, 
und außer Borodin ist keine der Hauptfiguren historisch be 
glaubigt. Sind darum alle die anderen „Eroberer" willkürlich 
erfunden wie die Gestalten irgend eines historischen Romans? 
Der Verfasser behauptet, daß ihni eine Untreue gegen die ge 
schichtlichen Ereignisse nirgends vorgeworfen we ben könne. 
Er verdient in der Tat das Vertrauen, das er fordert, denn 
mögen die in dem Buch eingesetzten Personen gelebt haben 
oder nicht, sie wirken sämtlich so echt wie der eine Lorodin. 
Der Propagandakommissar, der Terroristenführer, der chine 
sische Staatsmann — so und nickt anders werden sie gekämpfl, s 
argumentiert und sich zu den Massen verhalten haben. Die 
Macht des Daseins, die sie durch die Gestaltung erlangen, 
unterdrückt jede Frage nach ihrem faktischen Dasein. Malraux 
gibt wie der Dichter die eigentliche Wirklichkeit der Geschichte j 
und bewahrt zugleich die Geschichte als Reporter. Um des i 
Doppesiieles willen lösen sich fortwährend Telegrammtextc 
und psychologische Analysen ab, die ebenfalls im Telegramm 
stil gehalten find. Ihr für die Gestalt des Buchs bezeichnender 
Wechsel erzeugt eine ungewöhnliche Spannung. 
* 
Die Staffage des revolutionären China ersteht in kurzen, 
meisterlichen Skizzen. Keine Gesamtüberblicke, sondern Einzel 
heiten. Das Hotel in Hongkong während des Generalstreiks; 
ein Bordell mit annamitischen Prostituierten; eine Straßen- 
schlacht in Kanton. Alles ist nur gerade angedeutet, aber die 
paar Merkmale sind so sicher ausgcwählt, daß sie sich von selbst 
zu fertigen Bildern ergänzen. Ihre Atmosphäre ist von äußer-1 
ster Dichte. 
Die „Eroberer" mitsamt dem Nebenpersonal find Fremd 
linge im Land. Nachkriegseuropäer; Abenteurernaturen. Ihnen 
voran die Hauptfigur: der Propagandakommissar Peter 
Garin, dessen Biographie allein Bände füllen könnte. Mal- 
raux begnügt sich mit einem (in unserem Feuilleton seinerzeit 
nachgedruckten) summarischen Lebensabritz dieses aus jeder 
Bindung befreiten, vagabundenhaftsn Lebens. Es beginnt in 
Genf, flihrt auf die Anklagebank, zur Fremdenlegion, durch 
Spielsäle in Züricher Bolichewistenkreise und schließlich nach 
Kanton. Die Existenzen Kleins und Görards sind Mosaik 
muster von ähnlicher Ueppigkeit. Der Polizeikomnnfsar Niko- 
laieff sängt vor dem Krieg als Agent der Ochrana an, wird 
entlassen, handelt mit Postkarten und schlägt sich während der 
russischen Wirren als Geschirrspüler zu Sun Pat-sen durch, 
der ihn der Geheimpolizei attachiert. Das Asyl aller dieser 
Obdachlosen ist die Revolution. 
Sie kämpfen unter dem Sowjetbanner für ein China, das 
sie nicht kennen. Es will gewiß die Autonomie und die Frei 
heit im Innern, aber es fügt sich nur mit Widerstreben den 
ihm von seinen Lehrmeistern aufgezwungenen Methoden. Hong, 
der Terroristenführer, begeht so unsinnige Attentate, daß er 
schließlich von Earin beseitigt werden muß. Und jede Aktion 
der bolschewistischen Spitzengruppe prallt an Tscheng-Dai ab, 
dem chinesischen Ghandi, der für die Gewaltlosigkeit eintritt 
und durch seinen Opfertod die Pläne der Eroberer durchkreuzt- 
z Deren Schicksal ist, daß sie in dem Augenblick, in dem sie ihr 
! Dasein einer Idee unterstellen, auf die Gegenkräfte des von 
z ihnen geweckten und geführten Volkes stoßen. 
Weihen sie ihr Leben wirklich der Idee? Malraux zerstört 
den schönen Schein. Er zeigt, daß diese Nachkriegsmenschrn, 
die Asien durchschweifen und in China die Revolution be- 
j treiben, sich in Wahrheit auf einer „Flucht ohne Ende" be 
finden. Die Tragik ihres Loses besteht nicht darin, daß sie sich 
für eine Sache aufopfern, sondern daß sie an das Opfer nicht 
glauben. Sie sind militante Anarchisten und Nihilisten; 
sie sitzen sich ein, um sich über die Leere nicht entsetzen zu 
müssen. Da ist Renfkh, ein alter russischer Sammler, der auf' 
Kosten des Bostoner Museums reist, um asiatische Kunstgegen 
stände zu suchen. Er langweilt sich, befaßt sich mit kleinen 
Spielereien. „Ach, mein Lieber, Menschen wie ich haben so 
wenig Unterhaltung," sagt er zum Erzähler. Da ist der Genusse 
Rebecci, der nach langen Irrfahrten sich im Chinesenviertel 
Hongkongs niedergelassen hat und dort den Chinesen Schund 
aus europäischen Basaren verkauft. Er liebt es, auf einem 
Rohrsofa mitten in seinem engen Laden zu liegen und von 
Reisen im inneren China zu träumen. Da ist Garin selbst, 
ein schlaffer, müder Mann, der von der Malaria vermehrt 
wird. Vor seiner Berufung nach Kanton erklärt er: „Ich liebe 
die armen Leute nicht, das Volk, kurz die, für die ich kämpfen 
gehe... Gewiß habe ich für die Bourgeoisie, aus der ich 
komme, nur Haß und Ekel übrig. Aber die andern, ich weiß 
es ganz genau, werden auch abscheulich werden, sobald wir 
zusammen triumphiert haben..." Am Ende des Buchs soll 
er seiner Krankheit wegen auf Urlaub reisen. Wy er hin möchte, 
fragt ihn der Erzähler. „Nach England. Fetzt weiß ich, 
was das Empire ist. Ein zäher, ständiger Gewaltakt. Lenken. 
Entscheiden. Zwingen. Das ist das Leben..." 
* 
Das russische und das italienische Zensurverbot zu ver 
stehen. fällt nach alledem nicht schwer. In diesem Buch wird 
eine Destruktion getrieben, der Ideen und Führer nicht ftand- 
halten. Nikolaieff. der Polizeimann, drückt es auf seine Weise 
aus, wenn er meint: „... das individuelle Bewußtsein, siehst 
du, ist die Krankheit der Chefs. Was hier am meisten fehlt, 
ist eine richtige Tscheka..." Ein individuelles Bewußtsein, 
das überdies "aus Schäche vor England kapituliert, verstößt 
freilich gegen bolschewistische Fundamentallehren. Und kaum 
minder läuft der Abbau des Heroenkultus dem fascistischen 
Lebensgefühl zuwider. 
Man hat Malraux seinen Zynismus zum, Vorwurf ge 
macht. Er ist nicht zynisch. Er hat nur unfreiwillig der vielen 
Weltgeschichte, der auch er ausgeseht war, zu lange,unter die 
Dessous geblickt, als daß er die meisten Lappen, die sich die 
Menschen umwerfen, für mehr halten könnte als für Lappen.
	        
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