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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

1. Mai in Jerlin. 
Zwischen Neukölln und Lustgarten/ 
Vor dem Abmarsch. 
Früh gegen 8.30 Uhram Hermannplatz m Neukölln. Ein strah 
lender Morgen; so Leglänzte das Kaiserwetter vor dem Krieg die 
großen Paraden^ In der Nähe eines der kommunistischen Ver 
sammlungsorte bilden sich Zerstreute Gruppen, die ernstweilen un 
tätig herumstehm. Viele Leute aus der Kriegsgeneration. Sie! 
haben noch die alten Militärgesichter, die jetzt nur zu anderen 
Zwecken verwändt werden. Ein Mann verkauft für zehn Pfennige 
proletarische . Maiblumen, rote Blumen aus Papier, die in jedem 
'Knopfloch glühen. Blitzblanke Schupomannschaft rollt an, steigt 
ab, , verteilt sich. Immer Zwei und zwei, mit neutralem Ausdruck. 
Fest steht und treu die Polizei, während ein Propagandawagen 
der Roten Hilfe vorbeifLhrt und die Begrüßung Rotfront ertönt. 
Alles wartet, der Sonnenschein wirkt wie ein Bürgschein für den 
friedlichen Verlauf. Daß es an so schönen Tagen je zu grimmigen 
Schlachten kam, ist schlechterdings nicht zu begreifen. 
/ .De^ 
Um A.36 Uhr etwa beginnt sich der kommunistische Demon 
strationszug zu entwickeln. Sie marschieren mit ihren Musikkapellen 
m emZelnen Abteilungen hintereinander, die Steinträger, die 
Rohrleger, die Erwerbslosen, die Angehörigen, der verschiedenen 
Betriebszellen, die Melker, die Sportler und Sportlerinnen im 
leichten, bunten Badekostüm. (Nicht durchweg sieht die Nacktheit 
gut aus, wie revolutionär immer sie gemeint sein mag.) Rüstig 
schreiten Frauen in Reih und Glied, deren Züge verarbeitet sind, 
und ein Kindertrupp fordert die Freiheit der Lehrmittel, von der 
er noch nichts versteht. Ueberall folgen blaue Uniformen, rechts, 
links und von Zeit zu Zeit auf Lastautos mittendrein. Sie ver 
körpern Ne bestehende Ordnung, die von den Demonstranten be 
kämpft wird. Aber beide Parteien haben gewissermaßen einen 
Wafsenfried^n miteinander abge^ und arbeiten Hand in 
Hand. Der Protest gegen die Ordnung ist von dieser geregelt. 
Sie marschieren und marschieren. Sie haben nicht den strammen 
militärischen Schritt, sondern einen festen, schweren, der durch 
seine Ruhe wirkt. Eine Straße nach der andern tut sich vor ihnen 
auf, immer neue Straßen mit immer denselben Mietshausfronten. 
Aber wo der Zug eindringt, erweckt er die toten Fassaden zum 
Leben. Er dröhnt, tönt, singt und ruft, und die Angestellten in 
denBüros lassen ihre Arbeit sein, und alle Leute blicken zum 
/Fenster heraus. Im zweiten Stock eines Hauses strampelt gar ein 
kommunistisches Baby, von der Mutter gehalten, vor Entzücken mit 
Beinen und Händen. 
- Rot ist die Farbe des Zuges. Radier haben ihre Vorder- und 
Hinterräder rot dekoriert, und oberhM der endlosen Prozession 
wallen die roten Banner so dicht, daß man über sie -hinwegschreiten 
könnte. Ein einziges rotes Gewoge, das die grauen Hauswände 
beiseite drängt und wundervoll mit dem grünen Laub kontrastiert. 
Es ist beschriftet, marxistische Sentenzen und Proklamationen heben 
sich schreiend ppm roten Untergrund ab. Der Siebenstundentag wird 
verlangt und andere, noch einschneidendere Wünsche werden laut, 
das Bild Lenins schwebt wie das eines Heiligen voran, oder es 
"finden sich auf den wehenden Draperien auch Texte wie dieser: 
„Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser und 
Tribun". Parolen, die sich von der Metaphysik bis zur Tageslosung 
erstrecken. Sie sind oft nicht ohne Witz hingemalt und ausgeschmückt, 
dem Erfindungsgeist der Gruppen ist Spielraum gelassen worden. 
Im Lustgarten. 
Kurz vor Ml Uhr. Man kann sich ohne jede Schwierigkeit 
und Ausweis dem Schauplatz der Demonstration nähern, die Poli 
zisten halten sich diskret zurück oder haben eine Tarnkappe auf. 
(Sie werden schon dort sein, wo ds nötig ist.) Rechts droht das 
Schloß und hinten steigt die Marmorkulisse des Domes auf, ein 
wilhelminischer Restbestand, dessen Hohlheit bereits so offen zu 
Tage getreten ist, daß er sticht zur leisesten Geste den Empörung 
mehr aufreizt. Es denkt auch niemand daran, sich, zu empören. Die 
Menge, die auf . der Riesenfläche ZusamMmströmt, scheint sich zu 
einem Volksfest vereinigt zuch und Speiseeis wer ¬ 
den feilgeboten, saure Gurken in Wascheimern herbeigeschleppt, 
kommunistische Flugblätter und Zeitungen an den Mann gebracht. 
Die Züge, die wie aus Neukölln so aus dem Wedding eintrefsen, 
machen bei klingendem Spiel ihre Evolutionen. In dem Schauge 
pränge fällt unter anderem auf: das hölzerne Modell eines Traktors, 
das den Fünfjahresplan darstellen soll, und ein gewaltiger Schüpv- 
helm, der die Inschrift: „Republikschutzgesetz" trägt. Es fehlt nicht 
an Jnvektwen gegen die Sozialdemokratie. Mittlerweile haben 
scheinbar die Reden begonnen, doch man kann aus der Ferne nichts 
hören. Von ihrem Inhalt Wngt auch vermutlich nicht so viel ah. 
Ein Kameramann kurbelt auf einer rot ausgeschlagmen Plattform 
den ganzen 1. Mai. 
- Ueb er Mittag» 
Es ist heiß geworden. Ein Paar Meter weit vorn.Lustgarten 
entfernt, und man ist/durch Welten vom Weltfeiertag geschieden. 
Vor der Universität gibt es den Weltfeiertag einfach nicht. Die 
Studenten stehen korporationsweise beisammen. Sie haben Schmisse 
wie vor hundert Jahren, ste lebm unter einer Glasglocke wie nie 
zuvor, und tragen noch immer ihre bunten Mützen und Bänder, 
damit man sie ja nicht für gewöhnliche junge Leute hält wie die 
auf der Straße. Unter den Linden: die Autos rollen, die Cafes 
sind besucht,.dtt Heschäfte haben geöffnet. Alles wie sonst, der Be 
trieb geht weiter, ein unergründliches Nebeneinander. 
Später auf dem Hausvogteiplatz. Hier harrt eine größere 
. sozialdemokratische Gruppe, zum Start nach dem Lustgarten bereit. 
Sie kommt an die Reihe, wenn die Kommunisten dort das Feld 
geräumt haben. Dank der Organisationskunst der Behörden, die 
sich ebensogut schon vor einem Jahr hätte bewähren können, ist 
dafür gesorgt, daß. sich -die feindlichen. Züge weder Zeitlich noch 
räumlich begegnen. Welch eine Ordnung; auch die Krieger der 
Zukunft wüßten sich so behutsam ausweichen. 
Die SoZialdemokraten führen ebenfalls rote Fahnsn mit sich, 
sehen aber dennoch weniger revolutionär aus, ein Eindruck, der 
durch die beigemengte Reichsbannerkompanie verstärkt wird. Es 
herrscht hier gleichsam ein offizieller Ton, man hat Teil an der 
Macht im Staat und weitz daß man sie hat. Manche sind besser 
gekleidet, die Reichsbannergemeinen grüßen ihre Vorgesetzten halb 
militärisch, und unverkennbar ist eine schwache Spur von klein 
bürgerlichem Komfort. Auf einer der Fahnen flattert der Spruch: 
„Einigkeit macht swrk". Er we^ den Kom ¬ 
munisten im Wind. 
Rückkehr. 
Zwischen 1 und 2 wieder in Neukölln, zur gleichen Zeit mit 
den Heimkehrern vom Lustgarten. Sie nahen von neuem, die 
Steinträger, die Betriebszellen, die Badekostüme. Sind sie müde 
vom langen Weg, vom Marsch in den Kolonnen? Sie scheinen 
jetzt, da die Haupt- und Staatsaktion vorüber ist, sich frischer und 
freier zu fühlen. Zwar, die Ordnung wird gewahrt wie zuvor, 
aber die Fäuste ballen sich häufiger zum Gruß und in einem fort 
erschallen, Responsalien gleich, die Bekräftigungen: Hoch, Nieder, 
Wir. Zuletzt lösen sich dii Züge auf, denn gegessen muß unter 
allen Umständen werden. 
Am Nachmittag finden Festveranstaltungen statt. Die Kom 
munisten versammeln sich in Kliem's Sälen, die Sozialdemokraten 
gegenüber in der Neuen Welt. Hier und dort füllen Frauen und 
Männer mit der proletarischen-Maiblume die Räume; aber wird 
dort der „Kampfmai" begangen, so hier die „Maifeier". Ein 
feiner Wortunterschied. Er kennzeichnet den Riß, der sich durch 
unsere gesellschaftliche MMchM zieht. 
T S. Kracauer.
	        
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