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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Zusammenschmilzt. 
S. Kracmrer. 
beiseite, und die Schreib- 
wird die Walze abgenutzt 
S. Kracauer. 
zulande immer eilig haben, stoßen sie 
maschinen klappern über sie hinweg. 
Der Leierkasten ist verstummt. Bald 
sein. 
Schlager im Grit. 
Berlin, im Februar. 
Zu meiner Bürostube dringen durchs geschlossene Fenster die 
Klänge eines Leierkastens herauf. Ich w "ß nicht, was der Mann 
im Hof unten spielt, und wahrscheinlich hört ihm auch sonst 
niemand zu. Es ist kalt draußen, ein schlechtes Wetter für Melo 
dien. Schritte Hallen durch den Korridor, und die Schreibmaschi 
nen klappern unausgesetzt in den Vormittag hinein, der so mit 
Geschäftigkeit vollgspropft ist, daß die Drehorgelmusik einfach 
keinen Unterschlupf in ihm findet. 
Während sie noch ertönt, erinnere ich mich eines anderen musik 
labenderen Vormittags, in den ich während meines letzten 
Pariser Aufenthaltes verschlagen wurde. Straßenpublikum, wie 
es der Zufall zusammenfährt, umstand in einer kleinen Gaffs 
hinter dem Palais Royal zwei Musikanten und eine Frau. Die 
Frau trug gerade einen Schlager vor, dem die Menge andächtig 
lauschte. Nachdem sie geendet hatte, ging sie herum und bot das 
Notenblatt mit dem Text feil, das auch wirklich von den meisten 
Passanten käuflich erworben wurde. Es ist ungefähr ein halbes 
Jahr her, und ganz Frankreich feierte damals den Triumph der 
Ozeanflieger Csste und Bellonte. Ihre Heldentat besang dieser aller 
neueste Schlager Kaum war er in den Händen des Publikums, 
so beobachtete ich, wie viele Lippen sich lautlos und eifrig be 
wegten, um die Verse auswendig zu lernen. Und als dann die 
Fmu zum zweiten Male das Ruhmeslied zu singen begann, schloß 
sich der Menschenkreis allmählich zu einer Gemeinde zusammen, 
die von Strophe zu Strophe kräftiger mitsang. Handwerker, Klein- 
burgerfrauen und junge Burschen mit der Mütze auf dem Kopf: 
äs bildeten eine einzige große Familie, die zwei glorreiche Söhne 
einträchtig pries. Obwohl ich an einer solchen Szene zum ersten 
Male Leilnahm, war mir doch bewußt, daß ich ihr früher schon 
öeigewohnt hatte. Ws in aller Welt war er gewesen? Indes die 
Leute auseinander strömten, um wie Bienen die süße Last des 
Schlagers weiter M tragen, fiel mir plötzlich ein: in Rens Clairs 
Film: „8ans!ss toLt« äs karis*. Ich hatte ihn in Berlin kurz vor 
meiner Abreise nach Paris gesehen und nicht recht geglaubt, daß 
er nur die bare Wirklichkeit schildere... 
«§our lsr totts äs karis" — das ist ja der Schlager, den der 
Drehorgelmann im Hof unten spielt. Vergeblich möchte sich die 
Melodie an den Hinterhausfronten emporranken, sie ist welk und 
müde geworden. Ich vergegenwärtigte mir, wie sie einst an ihrem 
UrsprungsorL von dem Volk verhätschelt wurde, das sich selber 
besang, indem es sie sang. Von Paris ist sie später durch unsere 
Kinos gewandert, wo sie immer noch halb zu Hause war, weil 
Bilder der heimatlichen Plätze und Gaffen sie umrahmten. Eine 
Weile danach, und sie ist in die Salons und die Cafes gedrungen, 
wie ein exotischer Besuch, dem man gerne für kurze Zeit Asylrecht 
gewährt. Aber die Menschen lieben die Abwechslung, und so hat 
man sie schließlich auf die Straße gesetzt. Straßen, in denen sie 
sich nicht auskennt, sind jetzt ihr Exil. Die Passanten, die es hier 
selbständig geworden und Lahne sich aus eigener Kraft ihren Weg. 
Sie dringt mit der Hartnäckigkeit von Schriftzügen durch die Lust, 
stellt wieder und wieder wie eine Tabelle ihr: „Streichhölzer, 
Streichhölzer" und das: ,Mitte, helfen Sie mir" fest, und rückt, 
unbekümmert um Erfolg oder Mißerfolg, einer nicht geschlagenen 
und niemals Zu schlagenden Heeressäule gleich gegen die Licht 
reklamen vor. Eine schneidende, finstere Stimme, die sich auch von 
dem mondanen Seebad nicht aufhalten läßt. 
Bevor sich der Bettler noch Zeigt, kommt sie mir jedesmal schon 
entgegerr. Wie ein von der Armut entsandter Lotse holt sie mich 
ab und geleitet mich eine Strecke weit über den Kurfürstendamm, 
ohne abzunehwen oder lauter zu werden. Längst ist die Geld- 
rnünze in ^n Streich gefallen — sie aber kann nicht 
verstummen, 
Chaplin am Trapez» 
Ist Chaplin selber der Leinwand entstiegen? Jedenfalls 
tsatschelt er dreidimensional über die Bühne, auf der Zwei Trapez 
künstler üben. Sie vollführen schwierige Lustmanöver, greifen nach 
ihren Händen, ohne sich je zu verfehlen, und sind alles in allem 
durchaus selbstbewußte und Zielsichere Männer im Raum. 
Auch Chaplin möchte einer sein, ist und bleibt aber ein Wunder 
an Hilflosigkeit. Rutscht aus, wenn er emwurzeln müßte, verfängt 
sich mit dem Stückchen, als wuchere unsichtbares Schlingkraut aus 
den Brettern hervor, kann das Hütchen eines Drahthindernisses 
wegen nicht aufsetzen und lüftet es dann zu Ehren einer mühsam 
gefangenen Laus. In dieser verkehrten Umgebung,, in der ein so 
merkwürdiges Durcheinander von Menschen und Dingen herrscht, 
verirrt er sich fortwährend wie in jenem SpiegelkabmeLt, das wir 
Me aus dem Zirkussilm keM 
Dennoch ist er in feiner tieM den Hilf- 
kösen ein Tros^ I wieder gelingt es ihm, starken Leuten 
einen Schabernack zu spielen und die heimtückischen Gegenstände 
zu überlisten. Zwar taumelt er überall, wo die Erwachsenen un 
entwegt ausschreiterr, aber dafür findet er auch dort ein Plätzchen, 
ws sie gar nicht zu weilen vermochten Ein dünnes Seil wird ihm 
Zum Notanker, und stürzt er schon ab, so fällt er wenigstens gleich 
in sein Hütchen hinein. Er zeigt auf drollige Weise, daß eins 
Ohnmacht wie die seine sich doch zuletzt durch die Wett schlägl, 
der gegenüber sie stets versagt, und praktiziert die große Lehre, 
nach der ein Glück Zu jedem Unglück gehört. Grund genug für ihn, 
sich manchmal mit der Geste des Lriumphators über die just unter 
jochten UMstände zu erheben. Nur leider richten sie sich wie Steh- 
LufMännchen sofort in die Höhe, und das Nüchlaufspiel beginnt 
wieder von vorne. Die entstellte Melk wird von Chaplin nicht Zu- 
rechtgerückt, aber er kann sich in ihr behaupten und zupft sie Leim 
Ohr. 
Charlie Rivel, der sich rm Rahmen des unterhaltenden 
Februarprsgramms der Skala mit seinen beiden Partnern pro 
duziert— die Clownsnummer des kleinen Ensembles ist muster 
haft aufgÄöaut und voller komischer Pointen — hat sein Original 
genau belauscht und stilgerecht weiterentwickelt. Zug für Zug er 
steht die zierliche Gestalt, und eignet ihr auch die rührende Vehe- 
menz des Urbildes nicht ganz, so bricht sie doch einmal in jenes 
Chaplingelachter aus, das wie ein Blitzstrahl Irrsinn und Glück
	        
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