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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Berlin 
Heinrich Hausers Chicago-Film 
erscheint gleichzeitig mit seinem 
ehe es unwiderbringlich verschwindet. 
Wochenschauberichte hingewiesen, denen die Welt mit Brettern 
vernagelt ist. Sie sehen nichts und sie hören nichts, wo es doch, 
wie schon allein dieser Chicago-Film beweist, soviel zu sehen und 
M hören gibt.. Versicherten sich ihre Hersteller einiger Kräfte vom 
Schlage Hausers, so käme die Wochenschau endlich aus den 
Wochen heraus. 
Eine nicht unwesentliche Einschränkung ist freilich zu machen. 
So geglückt der Film als Reportage ist, er bleibt zugleich hierin 
den letzten Büchern Hausers verwandt, in der Reportage flecken. 
Fasziniert von den Gegebenheiten, den Kontrasten und Perspek 
tiven des neuen Raumes, in den wrx gerade einzutreten begin 
nen, nimmt Häuser die meisten Eindrücke hin, ohne sie eigentlich 
zu verarbeiten und ihrem Sinn nachzufragen. Daher sind seine 
optischen Entdeckungen einstweilen nicht viel mehr als wertvolles 
Rohmaterial. Sie liefern Stoff, der noch nicht durchdrungen ist 
und begnügen sich mit der Zusammenstellung von Fakten, deren 
Unverbindlichkeit erst aufzuheben wäre. Um zu echten' Ergebnissen 
zu gelangen, wird Häuser die Form der konstatierenden Reportage 
sprengen müssen; ihre Grenze hat er bereits erreicht. 
Von den zivilisierten Wilden der Weltstädte ist der verstorbene 
Regisseur Murnau zu den primitiven der Südsee geflohen. 
Andere haben ihm diese Flucht ins verlorene Paradies vorgemacht. 
Seine Beute ist der Film: ,I^abu" gewesen, der nun schon sert 
Wochen in Berlin läuft: ein Werk, das frei von jedem . Atelier 
zwang entstanden ist und um seiner Reife willen Bewunderung 
verdient. Es stellt einen regelrechten mythischen Ablauf dar, in 
dem sich Weihe, Frevel und Sühne einander bedingen. Ist dieser 
Mythos real? Er ist es nicht mehr für uns, und sogar die Ein 
geborenen, die fortwährend mit den Weißen in Berührung kom 
men, sind ihm schon halb entwachsen. Die glatte Abrundung des 
Films und seine zu große Stimmigkeit verraten, daß das Mythische 
hier nicht Wirklichkeit, sondern Sehnsuchtsziel ist. Hausers Chicago 
Film hält der Gegenwart stand; Murnaus: ,Aabu" bedeutet ein 
nicht mitvollziehbares Zurück. Wer aber die Schwäche erkennt, der 
diese Elegie entstammt, darf sich ihrer Schönheit um so auf 
richtiger freuen. Alle Schönheiten des menschlichen Körpers, der 
Erde und des Meeres sind in ihr gesammelt und mit einer Weh 
mut veranschaulicht, die auf das Schicksal des Schönen hinweist. 
Daß seine Ursprünglichkeit untergehen muß, meint jene herrliche 
Szene, die den Jazz mit der Körpersprache der Primitiven kon 
frontiert. Und nur mit Ergriffenheit kann ich des Schlusses ge 
denken, der ein Abschied ist: lautlos gleitet nach vollstrecktem 
Urteil das Segelschiff des alten Häuptlings ins Meer hinaus und 
ist noch lange, eine winzige Erscheinung, am Horizont zu sehen, 
Anfang Oktober. 
„Weltstadt in 
ReiseLuch: „Feldwege nach Chicago" (S. Fischer Verlag, Berlin), 
aus dem wir an dieser Stelle einige Abschnitte veröffentlichten — 
ist eine ausgezeichnete Bildreportage. Sie verrät nicht nur ein 
starkes filmisches Talent, sondern vor allem eine ungewöhnliche 
Gabe der Beobachtung. Weit jenen faden Produkten überlegen, 
die man uns unter dem Namen Kulturfilme gemeinhin vorzu- 
setzen pflegt, vermittelt sie statt konventioneller Vorstellungen und 
sngelesener Begriffe ein Bild von ihrem Gegenstand, das mit 
eigenen Augen gesehen ist und ihn vorurteilslos zu erfassen sucht. 
Aus dem Film ist die Leidenschaft zu spüren, mit der Häuser 
diese Wildnis erobert hat, die Chicago heißt. Stadtrausch, so hätte 
er auch seinen Film nennen können; den hier ist der Rausch Bild 
geworden, in dem einer oft tagelang besinnungslos durch die 
Straßen fremder Städte treibt. Was fängt er nicht alles auf 
seinen Wanderungen mit der Kamera ein! Die Wolkenkratzer 
massen, die ihm wie eine unglaubwürdige Vision bei der Ankunft 
auf dem Mississippi erscheinen; das Chaos der Hochbahnen und 
die sich öffnenden Brücken; die Schutthaufen, die wie Exkremente 
der Mammuthstadt wirken; die Schrecklichst der Straßenkreu 
zungen, die Wäsche vor Mietskasernen, die Grünflächen, .di' Rie 
senkrane, die Viehherden, die zu den Schlachthäusern ziehen — 
diese Aufnahmen pressen im genauen Gegensatz zu den üblichen 
Ansichtspostkarten ihren Urbildern eine Menge inoffizieller Be 
kenntnisse ab. Durch die Art der Überschneidung werden schein 
bar gleichgültige Tatbestände Zu wichtigen Aussagen über sich 
selbst genötigt, und durch die Komposition der Szenen, die auch 
stellenweise mit gewissen optischen Leitmotiven arbeitet, ersteht das 
wahnsinnige Tempo Chicagos so greifbar wie irgendein bild 
hafter Eindruck. Obwohl vorwiegend das bewußtlose Leben der 
Stadtnatur dechiffriert wird, fehlen doch die Menschen nicht ganz. 
Man sieht unter anderem Gruppen, die wie Illustrationen zu 
Polizeiberichten anmuten, Elendsfiguren, Betrunkene und das 
Mtagsheer der Angestellten, das zum Bürodienst einrückt. 
Zahlreiche herrliche Einzelheiten wie gleich am Anfang die 
Flußbilder wären besonders Zu rühmen, andere Szenen, aller 
dings verschwindend wenige, zu tadeln, weil sie nicht charakteri 
stisch sind. Von den technischen Details etwa hätten mit Aus 
nahme der laufenden Bänder getrost ein paar gestrichen werden 
dürfen. Aber es liegt hier gar nichts an einem peinlichen Ab 
wägen. Entscheidender ist, daß Häuser mit seinem Film wieder 
einmal zeigt, was sich aus den Objekten wirklich herausholen läßt. 
Ich habe schon öfters auf die Jämmerlichkeit der industriellen
	        
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