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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Begleiterin, und die kleine Menschenansammlung zerrieselt rasch 
wieder, ohne daß ein Polizist oder ein Kinooperateur sich zeigte. 
Aus der Urwüchstgkeit dieses nachmittägigen Ereignisses läßt sich 
unschwer auf die der Wende schließen. Wenn der Rheinstrom 
glänzt, die bayrischen Alpen erglühen, der Springbrunnen des 
Alkazars farbig rauscht und das Licht aller Vergnügungsfaffaden 
mit vereinten Kräften die Baumwipfel streift, erinnert die Reeper- 
Lahn von fern an die Avenue de Clichy, mit der sie auch die 
Eigentümlichkeit teilt, eine wichtige Station des Fremdenverkehrs 
zu sein. Wahrhaftig, wie auf dem Monmartre rollt, ein luxuriöses 
Autocar an und bringt die Fremden zu den Freuden und Köni 
ginnen der Nacht. Um dem Schwärm zu entrinnen, der von den 
Garderobieren und Kellnern, auf die er ungestüm niederbraust, 
schlechthin als die Rundfahrt bezeichnet wird, tut man gut daran, 
sich in eine dunkle Seitenstraße zu verziehen, in der verschiedene 
Chinesenkneipen gedeihen Sie stinken, ihre Speisekarten tragen 
unverständliche Schriftlichen, und ihr Tee schmeckt wie jeder andere 
Tee. Füge ich noch hinzu, daß der Aufenthalt in ihnen trotz der 
naturgetreuen Statisten und mancher Verschlüge und Luken, hinter 
denen im Film unzweifelhaft ein Mord geschähe, auf die Dauer 
stumpfsinnig ist, so wäre damit der endgültige Beweis für ihre 
urwüchsige Echtheit erbracht. Die wirklichen Kenner bevorzugen 
statt solcher Echtheit gewisse Surrogate, in denen unsere Zeit sich 
verdichtet, und ich meinerseits gestehe gerne, daß mich stärker als 
jene chinesische Kaöimah ein Tanzlokal gefesselt hat, das in breiter 
Oeffentlichkeit am Anfang der Reeperbahn liegt. In ihm ver 
kehren junge Angestellte, die nach der neuesten Mode schlenkern. 
Feste Pärchen, Dirnen, denen die Bluse zart von der Schulter 
gleitet, und bessere Mädchen, die von den Schlenkernden engagiert 
werden möchten Aus den verschiedensten Ecken und Enden und 
Schichten herbeigeströmt, werden sie hier alle gleichmäßig von einer 
zuckersüßen Innenwelt umfaßt und erwärmt, die sich aus einer 
Art von Leichtsinn trapezförmig verjüngt und dadurch der genauen 
Kontrolle entzieht. Sie ist reich an matten Glasflächen, die je nach 
Bedarf vor- oder zurückgeschoben werden können, und enthält zwei 
kreisrunde leuchtende Tanzböden, deren einer sich auf der Empore 
befindet, dort, wo die beiden Längswände in spitzem Winkel sich 
nähern. Infolge der gewaltsamen Verjüngung entsteht die Täu 
schung, als ob er an einen im Unendlichen gelegenen Fluchtpunkt 
hinausgerückt sei. Sobald nun ein Tango zu schmachten beginnt, 
belebt sich jenes ferne Rondell. Aber zum Unterschied von den 
Tanzenden unten erscheinen die in der Höhe nicht als wirkliche 
Menschen, sondern als ein verschlungener Knäuel von Marionetten. 
Während ihre vermutlich fein modellierten Gesichter nur zu ahnen 
sind, schweben ihre Rocksäume und Beine im Lichte der strahlenden 
Fläche. Puppenhafte Geschöpfe, regen sie sich lautlos wie hinter 
gläsernen Wänden, und schweigt die Musik, so verschwinden sie 
augenblicklich im Kasten. 
ch 
Den Schiffen Zu folgen, die auf der Elbe fahren. — 
Wie ein See erweitert sie sich bei Blankenese, das sich hügel- 
aLwärts zu ihrem Ufer zieht und sie ein Stück weit begleitet. 
Baut sich der Ort, vom Fluß aus betrachtet, sichtbar, um nicht zu 
sagen, malerisch auf, so versteckt er sich vor seinen Bewohnern hinter 
Gärten und Parks. Lange, saubere Treppenpfade, deren Jrrgänge 
das Hügelbild kunstvoll erweitern, führen bald in'den Himmel, 
bald in die schönsten Blumenbeete hinein, niedere Häuschen, die 
halb unter der Erde zu leben scheinen, wechseln mit völlig aus ¬ 
gekrochenen Villen, der Badestrand wird von Bäumen behütet, die 
Hakenkreuze zeigen sich ungeniert öffentlich, und auf einem großen 
freien Wiesengelände weiden Flamingos, Hirsche und Rehe so 
einträchtig zusammen, daß man über dem Entzücken an ihrem 
sanftmütigen Dasein beinahe in die Gefahr geriete, des unsrigen 
zu vergessen. 
Den Schiffen zu folgen -- elbaufwärts und -abwärts fahren 
sie unablässig vorbei: die kleinen Kläffer von Barkassen, deren 
Motoren unverschämt rattern, die Kursdampferchen, die Kutter, 
die Segelboote, die Frachtschiffe der verschiedenen Nationen mit 
ihren Ausbauten, die oft wie eine Kolonie leichtgeschürzter 
Sommerhäuschen die Mitte des Liefschwarzen Schiffsgrunds be 
decken. Manchmal tuten sie dunkel und übertönen die ungefüge 
Baggermaschine im Fluß, die, wenn es ihr darauf an kommt, wie 
ein ganzer Schlacht- und Viehhof brüllen kann, neben dem noch 
eine Hühnerfarm untergeöracht ist. Und immer wieder ereignet 
sich dies: daß sich ohne jede Ankündigung aus dem Laub eine 
Riesenwand vorschiebt, die sich allmählich zum Ueberseedampfer 
entwickelt. Die „Cap Arcona", die „Hamburg", der „Albert 
Ballin": alle haben sie sich so unversehens genähert. Sie schwimmen 
nicht eigentlich auf dem Wasser, sie schweben in einer vollkommenen 
Stille dahin. Erscheinungen, die langsam und, wie mit den Händen 
zu greifen, dem Strand entlang gleiten und zögernd verschwinden. 
Aber gerade, weil sie sich ganz offenbaren, ist ihre Größe nicht 
zu ermessen. Der Tennisplatz hinter dem Schornstein schrumpft 
zum Käfig zusammen, die Menschen auf dem Promenadendeck sind 
ein winziger Haufen, und das gesamte Fahrzeug ist eine Abbildung 
seiner selbst. Daß man es wie ein Plakat zu überschauen vermag, 
wäre ein ihm zugefügtes Unrecht, wenn man seine leibhafte 
Gegenwart ubersähe, die das Schaubild berichtigt. Erst in der 
Nacht wird diesen Schiffen ihre wahre Gestalt zurückgeschenkt. 
Dann wachsen sie in die Höhe, leuchten, ein abgezirkelter Sternen- 
Himmel, aus endlich vielen Luken, und sind von außen so un 
geheuer, wie sie es inwendig sind. Mit ihnen zu reisen: welch eine 
Verlockung!- Aber wunderbar ist auch, ihnen mit den Blicken zu 
folgen und jene Reiserouten einzuschlagen, die sich während ihres 
Vorbeiwallens eröffnen. 
Wikosopßische Brocken. 
Vom intern, tionalen Hegel-Kongreß. 
Berlin, im Oktober. 
In der alten Aula der Universität, einem entzückenden Saal 
mit etwas leichtfertigen Rokoko-Ornamenten, der entschieden das 
Prädikat ehrwürdig nicht verdient, das ihm einer der Redner aus 
ehrwürdiger Gewohnheit heraus zuerkannts, wurde der zweite 
internationale Hegel-Kongreß in Anwesenheit zahl 
reicher ausländischer Gäste eröffnet. Vor allem die Holländer und 
die Italiener scheinen von der Hegel-Bewegung ergriffen zu sein, 
Während sich die Engländer und die Franzosen offenbar ziemlich 
unbewegt verhalten. Und die Russen? Ich komme auf sie gleich 
zurück. 
Was wäre ein Kongreß, den niemand begrüßte? Dieser ist wie 
ein ehrwürdiger Jubilar mit riesigen GrußbuteLLs bedacht wor 
den. Die Berliner philosophische Fakultät, die Behörden, die Preu 
ßische Akademie der Wissenschaften, die Deutsche Philosophische 
Gesellschaft usw.: sie alle haben es sich nicht nehmen lasten, dem 
Kongreß unter Beziehung auf Hegel Gutes zu wünschen. Wer und 
was alles mit Hegel in Verbindung steht, hat man erst jetzt richtig 
gemerkt. Dennoch verlohnte die Gr.'tulatwnskur keiner Erwäh 
nung, hätte sich unter den Grüßenden nicht auch der preußische 
Kultusminister Grimme befunden. 
Seine Grüße sind alles andere eher als PostkartengrußZ ge 
wesen, ist er doch als der einzige auf ein Thema eingegangen, das 
der Kongreß selber anscheinend gar nicht in Erwägung gezogen 
hat, obwohl es nah genug lag. Ich zitiere aus dem Programm 
einige Vortragstitel: „Der werdende Hegel"; „Das Wahre in der 
Philosophie Hegels"; „Das Problem der tzegelschen Logik"; 
„Hegel und das Privatrecht"; „Hegels Religionsphilosophie". Und 
so fort. Eine Blutenlese vielversprechender Themen, unter denen 
aber ein Name fehlt, der bei einem internationalen Hegel-Kongreß 
nicht hätte fehlen dürfen: Marx. Ob er aus Zerstreutheit weg 
geblieben ist, oder eine Ausfallerscheinung darstellt, wage ich nicht 
zu entscheiden. Jedenfalls hat ihn nur Herr Grimme mit Nach 
druck genannt. Er allein spricht von Lastalle; er allein erinnert 
ohne Rücksicht aufs akademische Schamgefühl daran, daß Hegels 
Denken Lm marxistischen verändert fortlebt. 
Und die Rüsten? Es soll mir ihnen verhandelt worden sein, 
aber sie sind nicht gekommen. Vielleicht haben die Vortragstitel 
sie qbgeschreckt. Außerdem fanden keine Diskussionen statt, und sie 
diskutieren als echte Dialektiker nun einmal gern. 
* 
Den Festvortrag hielt Professor Kroner (Kiel) über Hege! 
mch die Gegenwart. Nachdemer die Feindschaft des 19. Jahr 
hunderts gegen die Hegeische Metaphysik festgestellt hatte, ohne 
dabei allerdings auch nur mit einem Wort die tzegelschen Linken 
und des verpönten ökonomischen Materialismus zu gedenken, begab 
er sich sofort mitten in die Gegemvart hinein. Seine Betrachtungen 
waren zunächst ziemlich elegischer Art und gipfelten ungefähr in 
der Erkenntnis, daß Hegels System einer verlassenen Schloßruine 
gleiche, die nicht mehr beziehbar sei. Aber in echt dialektischem 
Umschlag wurde dann später diese zumal für den Hegelbund uner 
freuliche Tatsache in höchst erfreuliche übergeführt. Herr Kroner 
nämlich ist der Meinung, daß nach dem Krieg die Metaphysik bet 
uns wieder zu Ehren gekommen sei. Ich sehe mich vergeblich nach 
den Anzeichen um, aus denen er eine solche Gewißheit schöpft. 
Tleht die linkSradikale fugend in jenem Lager, da- er zu berühren 
ve. meidet, so gefällt sich die rechtsradikale in heilloser Romantik, 
und dazwischen ist eben nicht viel. Noch weniger kann ich seine 
hoffnungsvolle Aussage geheißen, daß wir uns jetzt vielleicht in 
einer Zeit befänden, in der sich der deutsche Geist wieder in seine 
Innerlichkeit zu vertiefen vermöge. Denn Mmal hat der deutsche 
Geist äußerer Existenzsorgen wegen in dieser Zeit verdammt wenig 
Zeit für die Innerlichkeit. Und zum anderen wäre die Möglichkeit, 
daß er sich jetzt doch ins Innere zurückzoge, statt erst einmal außen 
Ordnung zu schaffen, wahrhaftig kein MM Zum Frohlocken, son-
	        
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