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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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allerdings Nicht den Sinn dessen, was sein soll, sondern 
dessen, was ist, aber diese Erklärung hindert ihn nicht daran, 
den folgenden Satz Spenglers beifällig zu zitieren: „Die Welt 
geschichte ist das 'Weltgericht: ... sie hat immer die Wahrheit 
und Gerechtigkeit der Macht, der Rasse geopfert und die 
Menschen und Völker zum Tode verurteilt, denen die Wahr 
heit wichtiger war als Taten, und Gerechtigkeit wesentlicher 
als Macht." Es wäre ein Leichtes — ich denke etwa an den 
Drehfuß-Prozeß, die Aussage Spenglers durch Beispiele zu 
widerlegen, die das genaue Gegenteil beweisen. Von Inter 
esse ist hier jedoch nur die Feststellung, daß Fried, indem er 
diese These übernimmt, die gleiche Wirklichkeitsarmut verrät, 
die sich in der „Tat" gerade dort überall geltend macht, wo 
die neue Wirklichkeit postuliert wird. Denn der von ihm als 
Realität ausgespielte Satz, daß Wahrheit und Gerechtigkeit 
im weltgeschichtlichen Prozeß stets der Macht und der Rasse 
zum Opfer fielen, entspringt faktisch nicht der aktuellen Be 
ziehung zur Realität, ist vielmehr eine Frucht rein historischer 
Einstellung. Derselben Einstellung, von der es an einer ande 
ren Stelle der „Tat" mit einigem Recht heißt: „Ganz grund 
sätzlich, vom Ethischen her, könnte man fragen, ob die histo 
rische Einstellung nicht gerade im tiefsten Grunde unhistorisch 
ist, indem sie sich weigert, in die Dialektik der Geschichte ein 
Zugehen, und dadurch wirklich geschichtlich' zu werden". Ließe 
sich Fried mit der Dialektik der Geschichte ein, so rnüßte er 
bemerken, daß sich Macht und Rasse nur dann dauernd durch 
setzen, wenn sie jenen Lehren dienen, in denen sich Wahrheit 
und Gerechtigkeit jeweils verkörpern; daß sie dagegen zum 
Scheitern verurteilt sind, wenn sie allein sich selber in Kraft 
wissen wollen. Fried entzieht sich dieser Dialektik. Die Folge 
solcher Irrealität ist, daß er eine fragwürdige historische Kon 
templation mit einer Maxime des Handelns verwechselt und 
die natürliche Voraussetzung substantiellen Verhaltens zur 
Substanz übersteigert. Seine Position ist nichts sonst als 
Opposition gegen jede Sinnhaftigkeit überhaupt und selber so 
bar an Gehalt, wie nur die bloße unbelichtete Natur es ist. 
Die „Tat" richtet also gegen die liberale Wirklichkeit keine 
andere, substantiellere auf, fordert vielmehr nur eine, die sich 
nicht fordern läßt. Wer boshaft wäre, könnte einen der Ab 
götter des Tat-Kreises gegen diesen ins Treffen führen. Ich 
meine Spengler. Er sagt einmal, daß die nordische Seele, da 
sie ihre inneren Möglichkeiten erschöpft habe und ihr nur noch 
„der Trieb, die schöpferische Leidenschaft, eine geistige Daseins 
Wären die Begriffe des Tat-Kreises nur irreal aber an 
ihrem Hungertuch nagt auch der Widerspruch. Nicht der unab 
dingbare, der sich an der Grenze jedes geschlossenen Systems 
einstellt, dort, wo seine Voraussetzungen stecken, sondern einer, 
der das System von innen her auflöst. Es hat seinen guten 
Grund, daß die Mitarbeiter der „Tat", Teufelsaustreibern 
gleich, die den Hexen nachspüren, allenthalben Liberalismus 
wittern und die unseligen Tropfen zählen, die einer davon 
im Blute hat. Konservativismus und Sozialismus gelten ibnen 
als völlig verseucht, und was ist der russische Bolschewismus? 
„Es ist ein Liberalismus mit marxistischem Vorzeichen!" Auch 
der Fascismus wird des Umgangs mit dem Bösen geziehen und 
muß sich nachsagen lassen, daß er von einer Fülle liberaler 
Ideen durchsetzt sei. Kurzum, man ist päpstlicher als der Papst; 
vorausgesetzt, daß von ihm im Zusammenhang mit dem Fascis- 
mus geredet werden darf. Die Sucht, den Liberalismus bis 
in den entlegensten Winkel hinein zu hetzen und zu jagen, läßt 
nun unstreitig darauf schließen, daß er, psychoanalytisch ge 
sprochen, so etwas wie eine Verdrängungserscheinung ist. Man 
verfolgt ihn mit Haß, weil man ihn in sich hat. Und wirklich 
hat ihn die „Tat" unbewußt so sehr in sich, daß er überall aus 
ihr herausquillt. Er läßt sich nicht verbergen: der vorne von ihr 
vertriebene Liberalismus wird an der Hintertür stets wieder 
freundlich hineinkomplimentiert. Und schlupft er auch nicht 
unter seinem eigenen Namen ins Haus, so ist eine Verwechslung 
doch ausgeschlossen. Seine Gegenwart inmitten der ihm feind 
lichen Gedankenwelt ist aber ein Beweis mehr für deren Ohn 
macht. 
An entscheidenden Stellen tritt der Begriff des Einzel 
menschen in Bedeutungen auf, die denen der bewußten Haltung 
des Tat-Kreises Widerstreiten. So wird im Kampf gegen 
Amerikanismus und Kapitalismus nicht nur der Wiederauf 
bau des Berufsgedankens, sondern auch der Aufbau einer 
„neuen Persönlichkeitskultur" erstrebt. Ferner findet sich in 
dem Aufsatz: „Wohin treiben wird", dem gleichen, der das 
Programm enthält, der gesperrt gedruckte Satz: „Es geht um 
den Menschen. Und die Entscheidung darüber, wohin es geht 
und wie lange es dauert, .fällt in jedem Einzelnen selbst, 
nirgends sonst!" Aus welcher Sphäre werden diese Be 
stimmungen hierher verschlagen? Sie sind Individualismus 
idealistischer Prägung, bürgerliche Begriffe, wenn man will, 
die sich jedenfalls unter keiner Bedingung mit der Forderung 
des „integralen Nationalismus" und des „totalen Staates" 
vereinen lassen. Denn deren Erfüllung ist zum mindesten an 
die Einheit des allgemeinen und des subjektiven Willens 
geknüpft. Heißt es aber ausdrücklich, daß die Entscheidung in 
dem Gnzelnen selber falle und nirgends sonst, so ist damit 
der Staatswille von vornherein ausgeschaltet; auch dann, 
wenn eine organische Staatsauffassung zugrunde gelegt wird. 
Dieser autonome Einzelne ist viel eher der Träger des alten 
liberalen Systems als der einer Autarkie, und es zeugt nur 
von der Stärke der ererbten liberalen Vorstellungen, daß er 
sich in einer durchaus antiliberalen Konzeption noch den 
Ehrenplatz erobern kann. Wie das Beispiel Rußlands drastisch 
lehrt, ist in Wirklichkeit gerade die Aufhebung der Autonomie 
des einzelnen notwendig, um die Menschen in den souveränen 
Staat „hinein zu integrieren". Und obwohl die Sowjetunion 
von den Tat-Leuten des Liberalismus bezichtigt wird, weiß 
sie doch besser als diese darum Bescheid, daß der Aufbau einer 
nationalen Staatswirtschaft den einer „Persönlichkeitskultur" 
nicht duldet. Sie im freien Raum zu Verlangen und zualeich 
den Begriff des totalen Staates zu konstruieren, ist auf alle 
Fälle ein Widersinn. 
Die „Tat" beschränkt sich nicht darauf, die Entscheidung in 
den einzelnen zu verlegen, sondern entwirft auch ein ziemlich 
scharf umrissenes Bild seines zukünftigen Daseins. „Er wird 
weniger zu tun haben als heute, denn er kann nicht mehr acht 
Stunden beschäftigt werden. Er wird infolgedessen mehr Zeit 
form ohne Inhalt" bleibe, sich einen Gehalt ihrer Wirksamkeit 
wenigstens vortäufchen müsse. „Ibsen hat es," so fährt er fort, 
„die Lebenslüge genannt. Nun, etwas von ihr liegt in der 
gesamten Geistigkeit der westeuropäischen Zivilisation, insoweit 
sie auf eine religiöse, künstlerische, philosophische Zukunft, ein 
immaterielles Ziel, ein drittes Reich sich richtet, während in 
der tiefsten Tiefe ein dumpfes Gesühl nicht schweigen will, 
daß diese ganze Wirksamkeit Schein, die verzweifelte Selbst 
täuschung einer historischen Seele ist... Auf dieser Lebenslüge 
ruht Bayreuth, das etwas sein wollte im Gegensatz zu 
Pergamon, das etwas war." Diese Einsichten, deren Er 
kenntnisgehalt hier nicht zu erörtern ist, beziehen sich zwar 
auf den Sozialismus, treffen aber viel eher den Vorstellungs 
kreis der „Tat". Auch sie will etwas, das etwas war. Ich darf 
hinzufügen, daß es, insofern es Willensziel ist, nicht werden 
kann. (Schluß folgt morgen.) 
aus der Verwirklichung von Erkenntnissen entsteht, die direkte 
Forderung des Mythos aber gegenstandslos ist. Damit wäre 
der Appell der „Tat" an den Mythos gekennzeichnet als eine 
Reaktion ohne Gehalt. 
Ein gleiches gilt für den Begriff vom Raum. Wenn Zehrer 
es etwa als Notwendigkeit erachtet, daß sich die Sammlung 
der geistigen Elite innerhalb der Landschaften vollziehen müsse, 
so überhöht er eine Begleiterscheinung zur Bedingung. Denn 
gewiß spricht sich eine neue Lehre — und nur durch sie wird 
eine Elite bestimmt — gern zwischen Nachbarn herum; aber 
darum ist doch nicht die nachbarliche Beziehung die Voraus 
setzung für die Bildung dieser Elite. Wie hier, so stempelt die 
„Tat" durchweg den Raum zur Eigengröße; während er in 
Wirklichkeit Bedeutung jeweils von den auf seinem Boden 
sich realisierenden Gehalten empfängt, die er allerdings zu 
bewahren, zu verwandeln und auszudünsten vermag. Ein Kult 
mit dem Raum, der sich ganz offenbar wider die in liberalen 
Kreisen nicht ungebräuchliche Denkweise richtet, die zur Jnter- 
nationalität drängt, ohne räumliche Eigenarten voll mit ein- 
zusetzen. Indem jedoch diese Gegenaktion den Raum ver 
absolutiert, schießt sie weit übers Ziel hinaus und schafft 
einen aufgeblähten, hohlen Begriff, der aus dem Raum einen 
Popanz macht. Ich kann es mir nicht versagen, eine Probe 
Friedscher Raumkunst zu geben. „Das kapitalistische Abend 
land... verliert wahrscheinlich noch den Einfluß auf Süd 
amerika und Australien, wo die nationale Bewegung immer 
stärker auf Abschließung, Herauslösung aus der Weltwirtschaft, 
Selbständigkeit hinarbeitet. Möglich erscheint es, daß auch 
Südafrika dann herausfallen wird. In Nordamerika wird die 
heranreifende Auseinandersetzung zwischen den überschuldeten 
Farmern des Westens und dem industriell-finanziellen Osten 
schließlich zu einer ähnlichen wirtschaftlichen Symbiose wie 
zwischen Mitteleuropa—Rußland führen, wobei sich freilich 
dann ganz Nordamerika einschließlich Kanada ebenfalls völlig 
autark von der übrigen Welt abschließen wird. Damit verbleiben 
usw " Entnommen einem Aufsatz: „Der Umbau der Welt" 
(Mai-Heft 31). Die Irrealität dieser Plakatarchitektur liegt 
auf der Hand. Sie stempelt die im Raum sich darstellende 
Oekonomie ohne weiteres zu einer variablen des Raumes und 
verfälscht die Not von Zollgrenzen zur Tugend der Autarkie. 
Am erschreckendsten ist die Reaktion der „Tat" auf die 
Sinnhaftigkeit, die der Liberalismus, und nicht Nur er, dem 
Geschehen zuschreibt. So gut ich begreift, daß man sich von 
einer Situation wegwendet, die keinen Sinn mehr zu bewahr 
heiten scheint, so unvollziehbar dünkt mir doch der Schritt, 
den Fried bei wachem Bewußtsein ins Nichts der Barbarei 
unternimmt, Zwar behauptet auch er einen Sinn zu suchet
	        
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