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Metadata: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

ßafs im Aerüner Westen 
Von S» 
Rraeauer» 
wenn man nicht unbedingt mag, verzichten sie meistens darauf, 
eine Bestellung zu machen; es sei denn, daß sie sich Zwei Glas 
Wasser bringen lassen, um dem Kellner eine kleine Gefälligkeit 
zu erweisen. Der Kellner wäre sonst überflüssig und könnte unter 
Umstünden abgebaut werden. Den Pagen droht in dieser Hinsicht 
keine Gefahr, weil sie voll ausgenutzt sind. Sie dürfen nicht nur 
in einemfort das Glöckchen schwingen, sondern auch alle jene 
Zeitungen hin- und herschleppen, die denselben Nationen wie das 
Stammpublikum angehören. Aus ihnen unterrichtet es sich über 
Vorgänge in den Cafes der fernen Heimat. 
Daß sie schön ist und zu Wanderungen ermuntert, die Heimat, 
schließe ich aus dem Drang der Gäste, sich in ihrem Cafehaus 
ununterbrochen zu bewegen. Noch nie habe ich eine ähnlich starke 
Bewegung erlebt, und alle literarischen Bewegungen, die ich 
kenne, stehen an Triebkraft weit hinter dieser zurück. Wenn zum 
Beispiel zwei Leute an einem Tisch sitzen, begrüßt sie sofort ein 
Dritter, der andere Bekannte nach sich zieht, die wie von magne 
tischer Gewalt herbeigelockt werden. Ein Menschenhaufe ballt sich 
zusammen, der die freien und besetzten Stühle in der Nachbar 
schaft mit sich reißt und Zuletzt einen undurchdringlichen Klumpen 
bildet, dessen Bestandteile nicht mehr voneinander zu unter 
scheiden sind. Zu bedauern ist nur der Lisch in der Mitte des 
Klumpens. Plötzlich und grundlos zerstreut sich die Gesellschaft 
wieder, und übrig bleiben Zigarettenreste und zahlreiche leere 
Stühle, die unordentlich im Raum herumfahren. Der Tisch ist 
zwar nicht zerquetscht worden, hat aber sein schmuckes Aussehen 
verloren. Die Mitglieder des Klüngels streifen jetzt einzeln durchs 
Lokal, um bald an irgendeiner neuen Stelle unvermutet zusam- 
menzuschießen. Manche setzen sich überhaupt nicht, aus Angst, sie 
könnten etwas versäumen, sondern plaudern im Stehen und sind 
wie fliegende Truppen immer zum Aufbruch bereit. Andere lassen 
sich so auf einem Stuhl nieder, daß sie die ganze Umgebung be 
herrschen. Der Stuhl wird kurzerhand vom eigenen Tisch abgerückt 
und an den nächsten fremden herangeschoben, der auf diese Weise 
ebenfalls beschlagnahmt ist. Solche Umgruppierungen erhöhen 
nicht nur die Bequemlichkeit, sondern gewähren auch einen 
besseren Ueberblick über die im Lokal verteilten Gefährten. Richt 
selten kommen vertrauliche Unterhaltungen zwischen Partnern 
zustande, die sich an entgegengesetzten Enden befinden. Die Haupt 
sache ist, daß die Stimme weit genug reicht. 
Gegen Abend stockt der Wohnbetrieb, und eine sanfte 
Stille tritt ein. Harmlose Gäste durchblättern die Zeit 
schriften, die Pagen kichern hinter einer Balustrade, und in 
den Ecken flüstern verliebte Pärchen. Das Stammpublikum selber 
ist bis auf wenige zurückgelassene Beobachtungsposten ver 
schwunden. Ich habe Grund zur Annahme, daß es sich in der 
Zwischenzeit erholt, um für den Abend neue Kräfte zu sammeln. 
Denn kaum ist man der Pause halb inne geworden, so Lost der 
Strudel schon wieder und heftiger als zuvor. Die Schlagerkompo 
nisten, die zukünftigen Operettendiven, die Filmkomparsen, die 
Herren und die frisch importierten Jünglinge und Mädchen, die 
noch nichts ihr eigen nennen, außer Rosinen im Kopf: sie alle 
sind vollzählig eingezogen und bemühen sich jetzt darum, ihre 
Leistungen zu verdoppeln. Unbekümmert besetzen sie die Gänge, 
summen Bruchstücke sinnloser Melodien, schlagen über Abgründe 
hinweg Gesprächsbrücken und kreischen- Wehe dem Gast, der 
zwischen ihre Schwärme gerät! Er ist vom Ersticken bedroht und 
kann sich noch glücklich schätzen, wenn er, dem dünnen Bimbim 
des Telephonglöckchens folgend, mit heiler Haut den Ausgang 
erreicht. 
BerLm, im April. 
Schon die Notwendigkeit, den Ort des Cafes, das ich zu 
schildern mir vorgenommen habe, näher zu bestimmen, versetzt 
mich in eine gewisse Verlegenheit, Es könnte dem Cafe peinlich 
sein, wiedererkannt zu werden. Manche Personen fühlen sich ja 
auch verletzt, wenn sie dahinter gekommen zu sein glmrLen, daß 
sie in einem Roman dargestellt worden sind. Als ob ein Schrift 
steller seine Modelle je porträtähnlich gestaltete und sie nicht 
vielmehr so lange ummontierte und überblendete, bis sie sich den 
mit dem Werk verbundenen Absichten vollkommen fügen! Höchstens 
die Nebenfiguren werden mitunter unmittelbar nach dem Leben 
gezeichnet. Aber man muß heute alle möglichen Rücksichten 
nehmen, und so beschränke ich mich auf die Angabe, daß das 
Cafe irgendwo im Berliner Westen liegt- Der Westen ist groß und 
umfaßt zahlreiche Cafes. 
Das von mir gemeinte macht auf den ersten Blick hin einen 
durchaus normalen Eindruck. Es hat eine ziemliche Ausdehnung, 
ist mit Menschen und Zeitungen gefüllt und enthält sich jeder 
Musik. Die einzige Musik, di^ man in ihm hören kann, wird durch 
ein seines Glöckchen erzeugt, das oberhalb einer handlichen 
Schiefertafel bangt, auf der sich der Name des jeweils zum 
Telephon gewünschten Gastes eingetragen findet. Immer, wenn 
der Page die Tafel mit dem Glöckchen darüber spazieren führt, 
ertönt ein Bimbim, und wäre der Rauch nicht so dicht, man 
glaubte auf einer Alm unter klingenden Kühen zu ruhen. 
So alltäglich aber auch das Cafe anmutet, es ist inwendig 
verhext- Oder wie sonst sollte man sich die Tatsache erklären, daß 
jeder, der hier ahnungslos eintritt, um seinen Kafsee in Frieden 
zu trinken, binnen kurzem in einen Strudel ablenkender Ereign 
niste gerissen wird, die ihn zuletzt völlig verwirren? Urheber des 
Strudels ist unstreitig das Publikum, genauer: das Stamm 
publikum, dem auch der Ruf des Glöckchens gewöhnlich gilt. Die 
Verpflichtung, dieses Publikum einigermaßen zu kennzeichnen, 
erfordert wiederum meine Diskretion. Ich begnüge mich mit der 
Feststellung, daß es zum großen Teil ausländischer Herkunft ist, 
ohne die Nationen preiszugeben, denen es ersichtlich entstammt- 
Denn die gegenseitigen nationalen Vorurteile sind schon sowieso 
viel zu mächtig, als daß sie noch gefördert werden dürsten. Wesent 
lich unbedenklicher scheint mir die Mitteilung zu sein, daß die 
betreffenden Stammkunden in der Operetten- und Filmbranche 
tätig sind. Und zwar dient ihnen das Cafe als Börse. Offenbar 
werden an ihr nur Werte gehandelt, die niedrig im Kurs stehen. 
Aber nicht die Börsengeschäfte selber rufen jenen Strudel 
hervor, der alle Unbeteiligten verschlingt. Er brodelt und zischt 
vielmehr erst in den Feierstunden, in denen die richtige Börse 
ersterben ist. Dann verlassen die Stammgäste nämlich nicht wie 
andere Börsenbesucher den Versammlungsort, um ins Cafe oder 
nach Hause zu gehen, sondern verwandeln einfach die Börse in 
ein Cafe und machen aus ihm ihr Zuhause. So kommt es, daß 
sie sich eigentlich Tag und Nacht zu ständig wechselnden Zwecken 
im selben Raum aushalten. Bald treffen sie Vereinbarungen über 
Schlager und Engagements, bald sind sie gewöhnliche Gäste und 
bald wohnen sie hier. 
Bor allem die Beschäftigung des Wohnens füllt sie ganz aus. 
Ich weiß nicht, ob sie noch irgendwo eine eigene Unterkunft haben, 
aber jedenfalls benehmen sie sich in dem Cafe so ungezwungen 
wie in ihren privaten.vier Wänden. Es ist, als wollten sie dem 
Zufallsgast von vornherein zeigen, wie behaglich sie sich hier 
fühlen. Da man bei sich Zu Hause nichts essen und trinken muß,
	        
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