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Metadata: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Won der fitzenden LeVensweise. 
für immer geborgen. Er sitzt nicht wie auf einem gewöhnlichen 
Stuhl, er übt vielmehr die Funktion des Sitzens aus, und 
Lr Berlin, Anfang Nvvember. 
Die von Friedmann L Weber verunstaltete Stuhlaus 
Vor meinem Fenster verdichtet sich die Stadt zu einem Bild, 
das herrlich wie ein Naturschauspiel ist. Doch ehe ich mich ihm zu- 
wende, muß ich des Standortes gedenken, von dem aus eS sich er 
schließt. Er befindet sich hoch über einer unregelmäßigen Platz- 
snlage, der eine wunderbare Fähigkeit eignet. Sie kann sich un 
sichtbar machen, sie hat eine Tarnkappe auf. Mitten in einem groß 
städtischen Wohnviertel gelegen und Treffpunkt mehrerer breiter 
Straßen, entzieht sich der kleine Platz so sehr der öffentlichen Auf 
merksamkeit, daß kaum jemand auch nur seinen Namen kennt. 
Vielleicht hat diese märchenhafte Geschicklichkeit ihren Grund in der 
Tatsache, daß er vor allem dem Durchgangsverkehr dient. Taufende 
kreuzen ihn täglich im Omnibus oder in der Tram, aber gerade 
weil sie ihn ohne jedes Aufheben überqueren, versäumen sie es, 
seiner zu achten. So genießt er das unvergleichliche Glück, gewisser- 
Massen inkognito im Trubel leben zu dürfen, und obwohl er sich 
nach allen Seiten hin austut, ist es doch, als sei er von dichten 
Nebeln umlagert. . » 
DaS Stadtbild selber nun, das bei diesem Plätzchen beginnt, ist 
sm Raum von außerordentlicher Weite, den ein metallischer Eisen- 
aäer erfüllt. Er klingt von Eisenbahngleisen wider. Sie kommen 
aus dex Richtung des Bahnhofs Charlottenburg hinter einer über 
lebensgroßen Mietshauswand hervor, laufen bündelweise neben 
einander und entschwinden zuletzt hinter gewöhnlichen Häusern. 
Ein Schwärm von glänzenden Parallelen, der tief genug unter dem 
Fenster liegt, um seiner ganzen Ausdehnung nach übersehen wer 
Diese Landschaft ist ungestellteS Berlin. Ohne Absicht sprechen 
sich in ihr, die von selber gewachsen ist, seine Gegensätze aus, seine 
Harte, seine Offenheit, sein Nebeneinander, sein Glanz. Dre Er 
kenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hin 
gesagten Bilder geknüpft- 
stellung zu besichtigen, ist ein kleines Spezialvergnügen. Sie 
beginnt gewissermaßen bei Adam und Eva, die allerdings ver 
mutlich, dem Katalog nach zu schließen, „damit zufrieden waren, 
auf Decken und Fellen hingelagert zu ruhen", führt dann in 
chronologischer Reihenfolge verschiedene markante Stuhlpersön 
lichkeiten der Geschichte vor, und mündet zuletzt in die Sitzflächen 
der Gegenwart ein, die bei weitem den breitesten Raum bean- 
spruchett. Vielleicht dient überhaupt der ganze Rückblick auf die 
Vergangenheit nur dazu, um diese Gegenwart in ein Helles Licht 
zu setzen. Nicht anders verfahren ja auch die meisten idealistischen 
Philosophiesysteme, deren ersten Begriffsbestimmungen man schon 
an der Nasenspitze ansehen kann, bei welchen letzten Begriffen 
sie nach fünfhundert Seiten zu landen gedenken. * 
Ich lasse mich also gleich in den heutigen Sitz- und Liege- 
möLeln nieder, von denen der Katalog mit Recht meint, „daß sie 
dem Ruhebedürfnis des modernen Menschen aufs vollkommenste 
entsprechen und auch den Anforderungen eines verwöhnten Ge 
schmacks an gefälliger Form Genüge tun . . . Ja, das tun die 
hier gezeigten Sitzerzeugnisse in der Tat. Sie sind geräumig wie 
Eigenheime und nach einer neuartigen Methode gepolstert, die 
zwar den Motten nicht mehr gestattet, in ihnen behaglich zu nisten, 
aber dafür das rein menschliche Ruhebedür^nis wunderbar stillt. 
Wer zwischen ihren vier Wänden Platz gefunden hat, ist sozusagen 
während er diesem Prozeß lustvoll obliegt, verfliegen von selber 
Sorgen, die ihn bedrücken. Freilich darf man nur gerade so 
viele haben, um das Stuhlwerk noch bezahlen zu können. Am 
trostreichsten sind zweifellos die Sitzeinrichtungen, die auf einen 
Insten Druck hin niederzugleiten beginnen; denn sie versetzen in 
einen Z - us - tand . . des Schwebens, in dem man Zeit und Raum hinter 
sich läßt. Wahrscheinlich soll er auch durch die Lunten Farben her 
vorgerufen werden, in denen alle Stoffbespannungen prangen. 
Sie wimmeln von Blümchen, von roten und gelben Streifen, 
deren betonte Freundlichkeit die düstere Gegenwart zurückdrängen 
möchte. Aber die Blümchen sind ohnmächtig, und den Streifen 
nutzt ihre Heiterkeit nichts. 
Die Stahlstühle, die natürlich nicht fehlen, find von diesem 
Hang zur Gemütlichkeit angesteckt worden. Statt sachlich zu 
blitzen, winden sie sich in matten, gelblichen Tönen durch die 
Zimmerluft. Oder in der Sprache des Katalogs ausgedrückt: 
„Auch das Stahlmöbel in reizvollen- metallischen Färbungen wird 
erstmalig gezeigt, so daß das Stahlmöbet nunmehr für das Heim 
unbederrklich Verwendung finden kann." Obwohl das Stahlmöbel 
immer noch forscher ist als diese Sprache, hat es doch seine frühere 
Angriffslust ganz verloren. Es folgt dem Zug der Zeit, und 
verkriecht sich mit den Leblümten Polstern und den gleitenden 
Liegesesseln am hüuslichen Herd. Draußen auf der Straße aber 
wird desto heftiger Politik gemacht. 
den zu können. Mt ihren vielen Signalmasten und Schuppen macht 
die Fläche beinahe den Eindruck eines mechanischen Modells, das 
ein Knabe, der irgendwo unsichtbar kniet, MM Experimentieren be 
nutzt. Er läßt im Spiel die entzückenden bunten Sradtbahnzüge 
rasend schnell auf- und abgleiten, jagt einzelne Lokomotiven hin 
und her und entsendet schwere V-Züge nach berühmten Städten 
wie Warschau und Paris, die gleich hinter der nächsten Ecke auf 
gebaut sind. Die Schienen blitzen, die Signale gehen abwechselnd 
hoch und nieder, und die Rauchwolken bleiben lange zurück. Glück 
lich neigr sich der Knabe über sein Werk, desien Vollkommenheit 
durch eine rauschende Straßenunterführung noch erhöht wird. Es 
muß schwer gewesen sein, sie so schnurgerade unter der gesamten 
Eisenöahnebene hindurchzuziehen. Wer die Mühe hat sich gelohnt, 
denn zahllose Wagen, deren Geschwindigkeit der Zeitraffer zu ver 
doppeln scheint, befahren jetzt unnachdenklich den Tunne^ Die 
rollenden Züge oben und eine Etage darunter dieses laufende Quer 
band der Wagen: das Geriesel setzt keinen Augenblick aus und stör- 
doch niemals die Ruhe der eisernen Fläche. Sie wird im Hinter 
grund durch einen schmalen, Hellen Hauserstreifen begrenzt, der sie 
nicht anders auffängt wie ein Waldrand enteilende Wiesen. Kaum 
kann man die Fenster und Balköne unterscheiden, so jenseitig ist 
schon der Streifen. Ihn überragt der Rundfunkturm, ein senkrechter 
Strich, der mit der Reißfeder dünn durch ein Sckck Himmel ge 
zogen ist. 
Abends ist das ganze Stadtbild illuminiert. Verschwunden die 
Schienen, die Masten, die Häuser ein einziges Lichterfeld glänzt 
in der Dunkelheit, eines von jenen, die dem Reisenden nachts Trost 
spenden, weil sie ihm die baldige Ankunft verheißen. Die Lichter 
sind über den Raum verteilt, sie harren still oder bewegen sich wie 
an Schnüren, und vorne, zum Greifen nah, leuchtet ein blendendes 
Orange, mit dessen Hilfe eine Großgarage ihren eigenen Ruhm 
weithin verbreitet. Mitten aus dem Getümmel, das keine Tiefe hat, 
erhebt sich ein strahlender Baum: der Rundfunkturm, der von 
seiner Spitze einen Lichtkegel rundum schickt. Unablässig kreisend 
taste: das Blinkfeuer die Nacht ab, und wenn der Sturm h^rlt, 
fliegt es über die hohe See, deren Wogen den Schienenacker 
umspülen. 
Man kann zwischen zwei Arten von Stadtbildern unterscheiden: 
den einen, die bewußt geformt sind, und den andern, die sich ab 
sichtslos ergeben. Jene entspringen dem künstlerischen Willen, der 
sich in Plätzen, Durchblicken, Gebäudegruppen und perspektivischen 
Effekten verwirklicht, die der Baedeker gemeinhin mit emem 
Sternchen beleuchtet. Diese dagegen entstehen, ohne vorher geplant 
worden Zu sein. Sie sind keine Kompositionen, die wie der Pariser 
Platz oder die Concorde ihr Dasein einer einheitlichen Baugesinnung 
zu verdanken hätten, sondern Geschöpfe des Zufalls, die sich nicht 
zur Rechenschaft ziehen lassen. Wo immer sich Steinmaffen und 
Straßenzüge zusammenfinden, deren Elemente aus ganz verschieden 
gerichteten Interessen hervorgehen, kommt ein solches Stadtbild zu 
stände, das selber niemals der Gegenstand irgendeines Interesses 
gewesen ist. Es ist so wenig gestaltet wie die Natur und gleicht einer 
Landschaft darin, daß es sich bewußtlos behauptet. Unbekümmert 
um sein Gesicht dämmert es durch die Zeit. 
Aerliner Landschaft» 
Von S. Krakauer.
	        
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