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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.01/Klebemappe 1921 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

leitet werden sollen. Das historische Geschehen wird vorwie 
gend aus der jeweiligen Gesellschaftsordnung und den Zeit 
kräften erklärt. Da die Kinder in der Gemeinschaft leben, 
können sie, so denkt man sich, das Gehörte ihrem eigenen Er 
fahrungsbereich leicht etngliedern, und da ihnen der Stoff nicht 
nach der früher üblichen autoritativen Methode geboten wird, 
stehe ihnen der Weg zu^iner vorurteilslosen, objektiven und 
selbständigen Erforschung Der Geschichte offen. Diese Anschau 
ungen, in denen sich marxistischer Geist mit einer gewissen 
seichten „AuMrung" mengt, find reichlich dilettantisch und 
geben der Jugend gerade das nicht, dessen sie am dringensten 
bedarf: die gestalthasten Vorbilder. Zudem ist eine derartige 
Sozialgeschichte notwendigerweise genau so einseitig und so 
wenig objektiv wie eine Heroengeschichte, die aber immerhin 
ihrer geringeren Abstraktheit wegen den Bedürfnissen des ju 
gendlichen Alters besser entspricht. Will man schon selbständige 
Individualitäten erziehen, so darf man auch die großen Indi 
viduen aus der Geschichte nickt ausschalten. Daß man mehr 
als bisher die kulturelle Entrvwlung zu berücksichtigen trachtet, 
ist natürlich zu billigen. (Dr. Kawerau hat seine Ideen 
über diesen Gegenstand aus geführt in der Schrift: „Sozio 
logischer Ausbau des Geschichtsunterrichts", Verlag N-eueS 
Vaterland in BeÄin.) 
In Übergangszeiten gleich den unsrigen mag eine Be 
wegung wie die der Schulreformer schon als Bewegung ihr 
Daseinsrecht haben. Man muß sich aber klar darüber sein, 
daß ihre Lösungsversuche mit inneren Mängeln behaftet und 
dämm skeptisch zu beurteilen sind. Es wird schon stimmen, 
was der Bundesvorsttzende während der Tagung sagte, daß sich 
die Aufgabe der Bewegung darin erschöpft, an den Schlaf der 
Welt zu rühren. ___ 8. Lr. 
Spiritistische Phänomene und ihre ErMruZ^. Daß in einer 
Zeit, rn der breite Schichten des Volkes sich dem Spiritismus Zu-' 
wenden, der Frankfurter Bund für VolLsLildung eine VortragK- 
folge über Geheimwissenschaften Veranstalter, ist sehr zu begrüßen, 
vermag doch einzig wissenschaftliche Aufklärung der bedrohlich ge 
wordenen unkritischen Hingabe an den Okkultismus Einhalt Hu 
tmu Die Leiden Vertrage, die Dr. Bappert w dem Rahmen 
dieses Lehrgangs hielt, beschäftigten sich in besonders gründlicher 
Weise mit den verschiedensten spiritistischen Phänomenen und 
brachten Erklärungsversuche für sie bei, die jeden Einsichtigen 
davon überzeugen mußten, daß es sich bei ihnen jedenfalls nicht 
um Erscheinungen von übernatürlicher Art handelt. Zunächst 
ging Dr. Bappert auf die physikalischen Phänomene des 
Spiritismus ein und zwar hauptsächlich auf die sogenarmren 
Mate rialisaiions Phänomene, denen Pros, w 
Schrenck-Notzing ein freilich nicht allzu kritisch gehaltenes Werk 
vor dem Krieg gewidmet hat. Der Redner besprach die Bedingung 
gen, unter denen Schrenck-Notzing experimentierte, und führt« 
> Lichtbilder von sogenannten Materialisationserschemungen vor, 
die von dem Experimentator während der Sitzungen mit Blitzlicht 
ausgenommen waren. Man sah da Gesichtsmasken und stoff- 
ähnliche Gebilde, die sich von dem Medium losgelöst haben sollen, 
niemals aber hat eigentlich, wie der Redner zeigte, Schrenck- 
Notzing den schlüssigen Beweis erbracht, daß es dem Medium an 
jeglicher Gelegenheit fehlte, durch geschickte Manipulationen der 
artige Dinge auf ganz natürliche Weise erscheinen Zu lassen. Da 
gegen besteht mehr als ein Verdachtsmoment, daß tatsächlich solche 
Manipulationen vorgen worden sind, und die Wahrschein ¬ 
lichkeit spricht somit dafür, daß man sie auch in den bisher uner«- 
klärten Füllen angewandt hat- Genau so wenig wie die Ma 
terialisation ist das Tisch rücken auf Geister zurückzuführen. 
In Wahrheit wird das Klopfen durch die Gedanken der Anwesen 
den veranlaßt, deren Erwartungen und Befürchtungen sich mittels 
unwillkürlicher Bewegungen auf den Tisch übertragen und ihn 
etwa zum Rotieren bringen. Solche Bewegungen können eine, 
große Kraft auslösen, wie schon das Beispiel eines Kindes zeigt, 
das eine schwere Glocke in Schwingung Zu setzen veMag. Met 
unter erschallen auch bei solchen Sitzungen Klopf töne, die 
aus dem Tisch selber hervorzukommen scheinen Das ist jedoch 
eine Täuschung, erklärbar aus der falschen Lokalisierung von Ge- 
rauschen, die das Medium mit seiner Zehe leicht hervorrufen kaum. 
! Keinem einzigen dieser Experimente wohnt wirklich Üeberzen- 
gungskraft nme, da sie zumeist auf unkontrollierbaren Voraus 
setzungen beruhen. Um ein Verständnis für die sogenannten, 
intellektuellen oder psychischen Phänomene des Spi« 
ritismus Zu gewinnen, wird man zu berücksichtigen haben, daß 
schon bei Nichtmedien übernormale Leistungen der Sinnesorgane - 
vorliegen können. Gesichts- oder Gehörssinn sind etwa in be 
sonders hohem Maße entwickelt, Eigenschaften, von denen der, 
landläufige Gedankenleser Gebrauch macht. Diese Steigerung der 
Leistungen wird auch durch die Hypnose bewirkt, die manche 
seelische Funktionen einschränkt, um die ganze Kraft auf die Aus 
übung anderer Zu konzentrieren. Derart erklärten M die Meisten 
Mpathischen Phänomene, Hellsehen, MusLelM usw., wie der 
Redner, unterstützt durch Lichtbilder, irr eiWeheuherr AusWrmrgM 
dMegt^ 
Las Msen des politisches IWxers. 
Von Dr. Siegfried Kraeauer. 
Wenn Kriege und Revolutionen ein zerrüttetes, der Auto 
rität bares Gemeinwesen hinterlassen, in dem der Kampf der 
Weltanschauungen weiter schwelt und jeden Augenblick schwere 
innere Unruhen zu entfachen droht, wenn hohlwangiges Elend 
sich in chiliastischen Wahnträumen wiegt und unaufhaltsame 
Korruption die letzten Bande des Vertrauens zerfrißt, dann be 
schwört heißeste Sehnsucht die Gestalt des großen volitischen 
Führers herauf, von dem eine bedrängte Menschheit 
sich einzig Rettung verspricht. Die Phantasie des ganzen 
Volkes schwärmt dem Erwarteten entgegen, noch ehe er leib 
haftig erschienen ist, sie sucht sich über das Wesen dessen, der 
dem Chaos ein Ende bereiten soll, schon im voraus Gewiß 
heit zu verschaffen. Je nach oer Richtung, die in solchen 
Epochen seelischen und politischen Wirrwarrs das Denken der 
Menschen einschlägt, spiegelt aber das Bild, das man von 
dem künftigen Hellsbringer entwirft, bald die Züge des reinen 
Idealisten, bald die des reinen Realisten wieder. Während 
die hochstrebende Hoffnung der einen sich den Erschauer der 
Ideen, den utopischen Menschen zum Führer erkiest, klammert 
die Ohnmacht der andern sich an den nüchternen Kenner der 
Wirklichkeit, der Menschen und Verhältnisse so nimmt, wie sie 
.nun einmal sind und genommen werden wollen. Tieferer 
Einsicht offenbart sich indessen beider Unzulänglichkeit zum Be 
ruf des politischen Führers. 
. Mag es sich nun um die politisch wirksamen Wiedertäufer 
»der um ein« der Gestalten aus unserer jüngsten Vergangenheit 
handeln, das Wesen des reinen politischen Idealisten 
ist immer von gleicher Beschaffenheit. Ueber die mit tauseno 
Mängeln behaftete Gegenwart hinaus schweift sein Blick dem 
Seinsollenden zu, dem allein höhere Notwendigkeit eignet. Je 
unbedingter die Forderungen sind, die er an seine verderbte 
Zeit stellt, um so mehr wird ihm der gegenwärtige Weltzustand 
xu einem bloßen Hemmnis, das überwunden werden muß, m 
einem nichtigen TeusÄsspuk, der zur Unwirklichkeit verblaßt 
neben der Wirklichkeit seiner Visionen. Wer zu diesen Visionen, 
diesen sozialen und politischen Utopien sich ausschwingt, der 
kümmert sich kaum noch um die plumpe Tatsächlichkeit der 
Dinge, ja, er darf sich nicht um sie kümmern, wenn er überhaupt 
des Ideals in seiner Vollkommenheit teilhaftig werden will. 
W« sollte er auch sich ihm anders nähern können als durch den 
kühnen Sprung über das Seiende hinweg? Indem er etwa 
die auf Brüderlichkeit gegründete Gemeinschaft der Freien und 
Gleichen postuliert, verschließt er M M Bedingtheiten WnA- 
! lichen Zusammenlebens gegenüber und dringt ohne Rücksicht 
! aus die Welt, wie sie zur Zeit noch ist, stürmisch der ersehnten 
utopischen Zukunft entgegen. Immerfort in dem Reiche' der 
Ideale verweilend, verliert er aber derart die Wirklichkeit aus 
den Augen, ihre Notwendigkeiten werden von ihm aufgehoben, 
sofern sie der Erfüllung seiner Forderungen im Wege stehen, 
oder diese Forderungen selber verwandeln sich ihm zum min 
desten aus einer endlichen in eine unendliche Aufgabe: kurz 
um, es bleibt ihm stets eine- schattenhafte Wirklichkeit zurück, 
der gestaltender Wille beinahe jede Form verleihen kann. 
Der reine politische Realist seinerseits fühlt sich ganz 
in die Gewalt der bestehenden Verhältnisse verstrickt. Er erkennt, 
daß nicht nur die tote Natur, sondern auch das lebendige Leben 
Gesetzen von unumstößlicher Gültigkeit gehorcht, die schlechter 
dings keine Uebertretung dulden. Statt die Gegebenheiten 
des sozialen und politischen Daseins ohne Prüfung durch ein 
Sollen zu überhöht», fragt er in erster Linie ihrer Notwendig- 
krit nach, statt Ansprüche an die Dinge zu stellen, die ledigli-b 
innerem Drang und subjektiven Bedürfnissen entwachsen, strebt 
er vor allem danach, die objektive Jnsichgeschlossenheit der Welt 
zu begreifen. Die Einsichten, die solches Bemühen zeitigt, 
führen ihn zu der bestimmten Ueberzeugung, daß die Realität 
(das heißt in unserem Falle die politisch-soziale Wirklichkeit) 
den Forderungen des Idealisten vielfach einen Widerstand 
leistet, der in der Beschaffenheit der Realität selber gelegen ist 
Er entdeckt, daß innerhÄb jeder größeren Gemeinschaft Kräfte 
am Werk sind, die im Verein mit den tief eingewurzelten uns 
darum dauernden Triebfedern menschlichen Handelns einen 
steten Fortschritt in der Richtung auf das Ideal zu verhindern, 
und es entschleiern sich ihm alle jene Unzulänglickkeiten unseres 
Daseins, die früher«, theologisch denkend« Jahrhunderte als 
Folge der .Erbsünde' hingenommen haben. Erfüllt von der 
brutalen Macht des Tatsächlichen, hält er es für ein eitles Be 
ginnen, dessen Existenz zu übersehen und die Gesetze, nach 
denen die Welt sich bewegt, Willkürhast umstoßen zu wollen. 
Dadurch aber, daß er ewig bei dem verharrt, was ist und sein 
muß, versperrt er sich schließlich jeglichen Zugang zu dem Reich 
der Ideen; die eherne unangreifbare Wirklichkeit lastet so sehr 
auf ihm, daß «r nicht zu entrinnen vermag, um sie aus dem 
Erlebnis visionär erschauter ZiÄe heraus schöpferisch zu ge 
stalten. 
Aus dem Wesen beider Menschheitsthpen läßt sich ihr Ver 
halten Äs politische Führer erschließen, und historisch« Er 
fahrung bestätigt durchgehends di« so gewonnenen Einsichten. 
Der reine Idealist zerschellt an der Wirklichkeit, wenn er sie 
' Miste«, will. Da er ihr Mir von seinem Ideal her naht, kennt
	        
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