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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.03/Klebemappe 1923 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

aus deren Leben sie erwachsen. 
Was wäre ein Zirkus, in dem nicht die Tiere als Hauptdar 
steller agierten, Auch fle benehmen sich anders als gewöhnlich 
vereinen sich, Kraft guter Dressur und hoher Intelligenz, mit ihren 
Herren und Herrinnen zu einem Tun, Wer das vermutlich ihre in 
Freiheit herumlaufendsn Brüder befremdet den Kopf schütteln 
würden. Richtige BÜren z. B. fahren Rad und trinken aus 
Flaschen und ein kleines Hündchen in Tirolertracht stolziert 
unnatürlich selbstbewußt durch die Manege. Man fragt sich wirk 
lich, ob nicht die Schöpfung eines Tages aus ihren Fugen geben 
kann, wenn solche Dinge geschehen- Dann ist da die Berbe'r - 
l o w e n-Familie, die mit ihrem Dompteur allerlei praktische Tätig 
keiten verrichtet. Man hockt etwa aus Schemeln, blickt starr vor 
lich hin, oder ringt mit dem Dompteur und liebkost ihn dann- 
Wenn auch das Löwenjunge manchmal knurrt und die Mama nicht 
eben angenehm gelaunt scheint, so ist doch dir Familie im allge 
meinen ganz uneuropäisch friedlich gesinnt; der Löwenvater zumal 
ist ein die Ruhe liebender älterer Herr, der mit dem Dompteur aus 
gutem Fuße stehh unh in ihm offenbar den Gentleman ehrt. 
M Mm. . 
Vor dem Tor, auf der Oftendstraße, dort, wo die häßlichen 
Bachtemgebaude der Landwirtschaftlichen Hallen stehen, staut sick 
irr der Dämmerung die Menge. Dahinter, das weiß sie verbirgt 
sich Las Geheimnis, eine fremde Welt öffnet sich hinter dem 
Zaun, die schlechthin anders ist als das ewige Einerlei auf den 
grauen Straßen. Man Passiert die Kontrolle, die jedem Unbö- 
rusenen den.Zutritt streng verwehrt, und steht nun unmittelbar 
vor dem Geheimnis. Wagen breitet sich neben Wagen eine aanzc 
Wagenburg bedeckt die Mache, lauter kleine fahrende Häuser deren 
manche von innen erleuchtet sind, und da ist auch das Riüsenzclt, 
das die vielen Wunder umschließt. Helliakeit blendet dis Em- 
tretenden, die Kinder brechen in Rufe des Entzückens aus und die 
Erwachsenen staunen wie die Kinder, alle sind hier einander gleich. 
Man sollte es nicht glauben: zwei Manegen enthält dieses 
irnwchrscheinliche Zelt, zwei große Rings, die von den ansteigen 
den Zuschaucrtribünen gleichmäßig umfaßt werden; in der Mitte, 
wo sich der Eingang befindet, ist es leicht eingebuchtet, und gegen 
über dem Eingang tut sich ein schwarzer Schlund auf der bald 
d'.s verborgenen Herrlichkeiten aus seinem Dunkel entlassen wird. 
Masten tragen schwer und bedächtig ihre ZeMast, Strickleitern und 
Taue, dis irgendwo in den oberen Regionen befestigt sind, hängen 
lose im Raum und harren ihrer Bestimmung. Dann spielt die 
Hauskapelle, während dis Tribünen allmählich sich füllen, ihre 
Märsche und Tanz-weisen auf. unter den Klängen der Musik quellen 
'aus dem geheimnisvollen Schlund zwei Reihen aalonlerter Zirkus 
diener hervor, die feierlich Aufstellung nehmen und die Akteure tän 
zeln eilig in die Manegen. 
, Man müßte überall Augen haben, um alles wahrnshmen zu 
können, was gleichzeitig in 'den beiden Manegen sich vollzieht Die 
Darbietungen, um die es sich hier und dort handelt, sind 
zwar einander stets fehr ähnlich, aber stets sind auch Abweichungen 
vorhanden, die man für sein Leben gern genau beobachten möchte. 
Das geht nun nicht, denn man kann ja nur das richtig erfassen, 
was in der Näh- im eigenen Ring vorgeführt wird; und so er 
greift die Uebernrugi-rigen ein eigentümliches Schwindelzefühl, 
sie drehen und wenden sich und geraten in einen Taumel, der die 
Dinge noch illusionärer macht, als sie eS an sich schon sind. 
^chrMiches Segibt sich in der Manege. Gitterartige Holz 
wände sind aufgerichtet, dis zu einem Ridsenkäfig sich runden. In 
diesem Käfig kreist ein Mann auf dem Nad, von einem Knaben 
gefolgt, dis Wände hinan; beide rasen immer höher, immer im 
Kreii: herum, ganz horizontal wirbeln sie durch den Käfig, dann 
senken sie sich mählich herab und begrüßen, als sei gar Nickis ge 
schehen, mit lässiger Gebärde das jubelnde Publikum. Wir an 
dern gehen senkrecht über die Straße und denken, das müßte so 
Mn« weil die Gesetze der Schwerkraft es angeblich gebieten. Aber 
was haLen^i^e Gesetzs noch viel zu besagen! Der Mann in 
dem Holzring hebt sie einfach auf, auf einem Rad, ja sogar auf 
. einem Motorrad äfft er die sogenannte Wirklichkeit und knattert 
i über ihre Gesetze hinweg Wände empor in anders Bezirke, in 
denen die gewohnten Bestimmungen nicht mehr gelten. 
Viel, sehr viel muß sich überhaupt diese unsere so vertraute 
Welt hier gefallen lasten, alles, was sie trägt und im Gleichgewicht 
erhält, scheint hier ganz und gar umgestürzt. Junge Damen mit 
zi-Michen Sonnenschirmen tanzen auf dem Drahtseil, das doch 
gewiß kein Parkettboden ist, einen Step, der sich wahrlich sehen 
lasten kann. Hüte, drei, vier, fünf an der Zahl, fliegen weit fort 
durch den Raum und kehren gehorsam wieder in die sie aus 
werfende Aand zurück, hoch oben in der Lust sitzt ein Herr gemüt 
lich auf einem Stuhl, raucht seine Zigarette und liest bei dem 
Licht der Bogenlampe die Zeitung, Spiralen, aus Menschenkör 
pern gebildet, winden sich Zur Decke empor, man weiß nicht, wo sie 
eigentlich befestigt sind, Luftschaukeln dienen als unsolide Grund 
lage für nock unsolidere Kletterkünsts, Herkulesse treiben mit unge- 
- heuren Stahlfedern und Zentnerlasten ihre gewichtigen Späße, 
, ein Fakir verspeist mit dem größten Appetit Flammen wie Butter 
brote und das alles geht vielfach gleichzeitig vor sich. Der 
Kopf dreht sich einem förmlich, man glaubt selber auf dem Kopf 
zu stchen. «.Leipziger Merlri", sagt der lange Emil. 
Der lange Emil, der Neins Fritze und der werßgepuberte 
CorLy sind ein besonderes Kapitel. Ihre Kleidungsstücks sitzen^ 
> entschieden nicht so, wie es sich gehört, die Weste ist zu lang, die 
Hose zu kurz, das Hemd zu weit und die fuchsroten Haare des 
langen Emil sträuben sich ruckartig und ganz unwahrscheinlich gräß 
lich, sodaß der winzige Fritze erschreckt hintorkolt und drollige 
Purzelbäume schlägt. Auch gehen die drei durchaus anders wie 
anders Leiste, sie stoßen überall an und unnennbare Schwierig 
keiten bereitet es ihnen etwa, die niedere Manegen,-Schranke zu 
überschreiten. Während des Aufräumens feuern sie die Diener zur 
Arbeit an, sparen nirgends an lehrhaften Ermahnungen und be 
eilen sich sogar, selber zu helfen, aber freilich das ist nicht so ein 
fach, der gute Wille allein tut es nicht, unsichtbare oder im Eilen 
selbst bereitete. Widerstände verhindern jede nützliche Tätigkeit, 
man kann eben nicht, wie man gern möchte, und treibt nur, was 
man nicht treiben will. Einsam und ernst verfolgen die Drei alle 
Darbietungen und versuchen hinterher auch ihr Glück — daß es 
nicht glückt, ist sicherlich nicht ihre Schuld, denn sts strengen sich 
ordentlich mit Verbissenheit an; Schuld daran, daß ihr ehrlicher 
Ernst so lächerlich wirkt, tragen stets kleine, fatale Umstände, oie 
alle ihre. Bemühungen vereiteln. Die richtige n Akteure heben 
die Bedingungen des uns gemäßen Lebens auf, der lange Emil 
und seine Freunde, zu denen übrigens auch ein faWcker Eng 
länder auf Rollschuhen und noch manche anderen merkwürdigen 
! Typen gehören, heben wiederum durch ihren abseitigen Ernst die 
'Unwirklichst jener Akteure auf — man sollte meinen, daß sie 
selber nun wieder die normale Wirklichkeit herstellten aber weit 
gefehlt, sie sind nur Karikatur der Karikatur, man glaubt in einem 
Spiegelkabinett Zu weilen aus dessen hintereinander befindlichen 
Spiegeln dem Beschauer das Ägene Antlitz immer verzerrter ent- 
gsgenleuchtet. » 
Jn der Pause ist Stallbesichtigung. Löwen, Bären 
und andere Ungetüme sitzen, selber jetzt Zuschauer, brav und 
gesittet hinter ihren Gittern und die schön aufgezäumten Pferde 
und Ponys lassen sich, von dem stolzen Attila an bis herab zur 
Keinen Liest, geduldig von vielen taufenden Händen streicheln. 
Direktor Straßburg er benutzt die Pause, um ein wenig von 
seinen Unternehmungen zu plaudern. Seine Besitztümer mit den 
Tierparks und Dressuranstalten liegen in Strehlen bet Breslau. 
Der eine seiner drei Zirkusbetriebe ruht jetzt völlig, der zweite, 
von seinem Schwager geführt, durchreist die Tschechoslowakei und 
mit dem dritten befindet er selber sich unterwegs. Zwei Loko 
motiven dampften dem Wer 40 Wagen starken Sonderzug voran 
der Truppe und Menagerie mitsamt all den wilden Tieren aus dem 
zahmen Darmstadt hierher beförderte, wo man nun annähernd 
vier Wochen bleiben will. 
Lü E°tlR VE stehen unter dem ° n 
den folgenden Aufsätzen dialektisch duvchMführt. Gogarteu 
stellt in einer längeren Hum Teil polemisch gefärbten Betrachtung 
der Ethik des Gewissens die Ethik der Gnade gegenüber, Kar! 
Barth erörtert aus dem gleichen neformatonifchen Geiste 
heraus in dialektisch sehr Mgespitzter Weise das Problem der 
Ethik in der Gegenwart, und Eduard Thurneyj en schließlich 
sucht zu zeigen, warum 'das Christentum bisher dem SeziaUs- 
mus gegenüber; versagte urcd wie es sich mit ihm, wenn es 
richtiges Christentum Ware, auseinandersetzen müßte. Ein und 
dersewe Grundgedanke zieht sich durch alle diese Aufsätze hin-- 
dürch: der Gedanke, daß kein menschliches Tun, auch nicht das 
ethische, von sich aus beanspruchen darf, zu Gott hinzuleiten, 
und daß darum gerade das ethische Hartdeln am verwerflichsten 
und recht eigentlich „gerichtet" ist, wenn es solchen Anspruch 
erhebt. Nicht vom Menschen zu Gott, sondern nur von Gott zum 
Menschen führt der Weg, und eben die Dialektik dieser Er 
kenntnis fordert, daß der sittlich am höchsten stehende Menfch 
ferner Ohnmacht am tiefsten inne werde. Der Glaube allein, 
der Glaube an die Botschaft des Evangeliums trägt aus dem 
Abgrund empor, in den so alles Menschliche gestürzt ist. Wer 
in ihm lebt, der wird nicht mehr in titanischer VermessenheiL 
wähnen, daß eigene Schöpfertat Hm die Verbindung mit dem 
Göttlichen gleichsam garantiere, er wird vielmehr alles Ethische 
unter den nötigen Vorbehalt stellen und die begrenzte, nur 
relative Bedeutung der menschlichen Ordnungen nach Gebühr ein? 
schätzen. Durch diese Nelativierung der Welt aus der Spannung 
des Glaubens heraus erhält freilich jedwedes welthafte Wirken 
einen neuen Akzent, es wird seiner über die menschliche Be-; 
dingth^t hinausgveisenden Ansprüche entkleidet und in einem 
ganz bestimmten Sinne zum „Spiel"; darum aber, und hierauf 
weisen die Verfasser nachdrücklich hin, bleiben doch die Förden 
rungen der Welt als Forderungen gleich fehr für uns bestehen, 
und nichts von ihrem Ernst geht ihnen verloren, nichts von der 
Kraft unseres Strebens nach ihrer Verwirklichung büßen wir 
ein, wenn sie auch vor Gott eben nur ein „Spiel" sind und der 
Glaube ihre Nelativierung heischt. — Mit der Andeutung dieser 
paulinisch - lutherischen Gedanken wag es hier fein Bewenden 
haben. Ihre Paradoxie tmrd in den Aufsätzen auf die Spitze 
getrieben und bewundernswert entfaltet. Es sind freilich Ge 
danken, die sozusagen auf des Messers Schneide stehen und bei 
der leichtesten Vergröberung eine unnennbare Gefahr bedeuten. 
Viel, ja alles hängt davon ab, wie sie sich in denen auswirken,
	        
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