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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.04/Klebemappe 1924 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

/ I pei^LLS»» 
Kokzapfeks „Uanideal". 
Zur Kritik der Kulturgläubigkrit. 
Von M. Siegfried Kraeauer. 
Dis Weh ,Pan ideal" des Oest-erreich-rs Rudolf 
Mark» Holzapfel, eine Schöpfung der VorkieMeit, ist 
(bei Eugen Diederichs, Jena) in neuer, sehr erweiterter Fas 
sung wieder erstanden. Als Einführung in die beiden mächti 
gen Bände läßt der gleiche Verlag ein« (von Hans Zbinden 
herausgegedene) Sanrmelschrist: „Ein Künder neuer Lebens 
wege* erscheinen, in der etliche sldepten Gehör für die Bot 
schaft des Meisters fordern. Ihre Werbung verpflichtet umso 
mehr zu einer Auseinandersetzung mit dem Werke, als Holz- 
apftl auch in den Kreisen der Jugend einigen Anhang gefun-^ 
dm hat. 
Vorweg genommen sei disSr .PcmideÄ" ist nicht neuest 
Evangelium» sondern alte, im Kern überlebte Lehre. Es 
gehört einer Epoche <m, die abgewirtschastet hat, ist Ausdruck 
einer Geistesholtung, deren UnMlänglichkeit e^ gerade heute 
einzusehen gilt. Dmm«h verbleibt dem Buche eine gewisse 
mitelbars Bedeutung. Wesentliche Züge jener geistigen Ge- 
samtvsrfassung näMch: ihr Vertrauen auf die Organisterbar- 
keit der menschlichen ^sellschast, ihr Geniekult, ihre ganze 
naive KulturglSubigkeit — in ihm enthüllen fls sich 
so drastisch, daß sich ein exemplarischeves (und zugleich bs- 
losienderes) Zeugnis der Seinsstufe, die es hervorgebracht hat, 
nicht wohl denken laßt. Die Erörterung des Werkes stellt darum 
keinswegS seine besonderen Gehalte allein in Frage. 
* 
Kaum erst Jüngling, ist Holzapfel nach Südafrika WS- 
gewandert und hat dann, wie der V-erlagsprsspekt meldet, lange 
Fahre ein bedrängtes Nomadenleben geführt. Gelegenheit ge 
nug, die Mängel menschlicher Einrichtungen gründlich auszu- 
forschen. Zwei Erfahrungen vornehmlich stoßen dem Schwei 
fenden überall zu. Einmal entdeckt er auf seinen Reisen, dM 
die Dogmen der Rektionen und die allgemeinen Moralgebote 
viel zu' weitmaschig und ungeschlacht sind, um die Ansprüche' 
komplizierter Individuen auch nur annähernd zu befriedigen: 
zum andern quält ihn das widervernünftige Gegeneinander d«i 
Menschengruppen, denen «s an rechter Gestalt und rschtm Ge-< 
staltern gebricht. 
Ohne sich lange Lei der zeitttlübenden Prüstmg aufzuhal- 
tm, ob nicht vielleicht diese (oder andere) Nnvollkommenheitsn 
aus irgend einem Grunde für Menschen unausrottbar sindss 
.Mist KolWpM foMH der Mfige» Mnschheit das JdeaMd '' 
. einer künftigen als wsÄ M erreichendes Ziel ihrer Bemühun- 
! 8-u. .Daß er eiuMoffen aufs Ganze Acht, bekundet schon'das' 
! vMherßunKvolle Wort Pan ideal. Es deutet auf eine Ge-p 
! ftüschast Hin, die, um in Holzapfels eigener Sprache zu reden, 
„dr« wesentlichen SeelenkrSste organisch umfassen und einer.,: 
E^msch einheitlichen Schaff« des Einzelnen und der 
MenWyclt entgegenführen könnte*. Aus diesem Projekt er 
wachst, wie es an anderer Stelle heißt, die Ausgabe, „an Stelle 
blinder Förderung aller möglichen einander widerfpvscheichen! 
„EntwiÄungen* solche Wege seelischer Wandlung, geistiger 
„Entwicklung* zu suchen, bis in Wirklichkeit und -HM» den 
Menschheiten Geistesschatz mchven und einer steiMnden Har- i 
MSN«, Vergchtigung und GefühlintensitSt" zuleiten. 
. Ein titanisches Kulturideal mithin, das rein in den dies-! 
fertigen Bezirken seinen letzten Abschluß sucht und findet. WI 
will den Menschengeist durch den Menschengeist befreien und 
eine Welt der allseitig entfalteten Seelen erschaffen, in der alle 
Dissonanzen aufgelöst sind. 
Erforschung der SeelenkrSste soll die Bahn bereiten. 
: Holzapfel gibt beschreibende Analysen der verschiedenen seeli 
schen Vorgänge, sozialen Gefühle und Gesinnungen, die, wie 
er wähnt, unter dem abstunipfenden Einfluß 'schematifchrr 
:MorÄgeiehe bisher vereinseitigt oder falsch gerichtet worden 
MZ. und fordert ihre differenziert« Am-- und Umbildung in 
MnideÄsschchem Sinne. So wünscht er etwa die „dgMMfche^ 
Aivellierungsgestalt des christlichen Gewissens*, die nach seiner 
Ueverzeugung „stuchtbar-e ethische Keime* «n der EntwiÄung 
hindert, dmch ein neues panid-salWschLS Gewissen zu sr- 
Men, das nach „schattierendster Mickflchtnahn» auf die W- 
Itufung der Anlagen und EntwMungen* strebt. Gelenkt von 
freiem Gewissen, ergmndet die Holzapfelsche Psychologie die 
Gesetz« kunMrrfchsn Schaffens, durchstöbert das Seelenleben 
der Heiligen und hebt gar „die -osiitive und negative. Bedeu 
tung des „Gebetes" für die MenschenNvtwicklung" hervor; 
kurzum, sie kundschastst auch noch den geheimsten Schlupfwinkel 
MS und verbreitet in ihm panideaNftisches Licht. Alles im 
Drmste des Gesamtkunftwerks einer Zukunstskulk-r, die mensch- 
lrches S-yopMum auf jedem Gebiet ins Nngemeffene steigern 
mochte. 
. Zu. Vringern und Walkern des sslgcmtischen Reichs ermäch- 
ügt Mn Künder geniale Menschtzeitskünstler", denen 
das neue Gewissen Wägt und die Seelenfsrschung zum Lmt- 
sadm wird Die Aufgaben, die er ihnen stellt, sind nicht ge 
ring, erwartet er doch, „daß wenigstens manche PlaWer und 
! auch ^.schöpferische Kulturgestaltsr, manche 
^«»lgionSfaster und Heilige" — man beachte die heitere Nnbs- 
MmM j. — »auch große Dichter,. .Forscher,. 
Plastiker oder Musiker werden" . Da Holzapfel kei.'r.'Nvc^? 
Lraumer, fondem durchE Mann der Praxis ist, p.mr. - 
schließlich di« Errichkung einer „Akademie der A: - 
- nahmen", die systematisch und in großem Stü d'? r 
lichung dieses Kmturprosramms beweiben soll. ES ynLR 
wohl, wenn man erfährst, daß sie unter anderem junge Genies 
ausfindig zu machen und für ihre ,grötztmSgliHr Vervou- 
komMMW" zu sorgen hat. 
* 
Das Ganz« RH sich wrs eine rmfrsiwillW (nur leider zu 
lang ausgewalzie) Satire auf den zumal im neunZelm:. !: 
Zahrhunürt vorwaltenden Geist, der hier mit seinen Blöß-?:: 
! gewaltig prunkt. Man kann, wmn man so will, die Haupt 
! verklungen dieses der ihm angemessenen Ätuatisn Wtronue- 
. nen Geistes Metten aus seiner L-eugnung menschlicher B< -' 
: dingtheit «nd seinem Trachten Mich Expropriierung Gottes. 
I Gescht- der Mensch befind« sich «ch an seinem richtigen O . k, 
! so weiß er jedenfalls d<S ein«, daß er nicht in sich selber 
! gründet, sondern seine Wurzeln außer sich hat. Er ancr- 
: kennt sein Geschaffensein und seine damit derbm-' 
haste Abhängigkeit, und wie weit immer er die Grenzen des 
durch ihn zu BAvirkenden hiwAuSverlegt, er vergißt doch nie, 
daß ihm überhaupt Grenzen gezogen sind. Diese elementare 
und an sich bloß Negativs Erkenntnis seit ihn zum Mindssteu 
i gsgen die ebenso elementare Irrlehre, di« dem Menschen die 
Fähigkeit zuspricht, aus eigener Kraft der Welt das „Kaiser 
ssiegel" aufWdxücken. Wie sollte er auch, gestützt auf das Wissen. 
um seine Bedingtheit, ein« Lösung menschlicher Wider 
sprüche, eine Aushebung aller UnzulänglWeiteN rein int Be 
zirk des Menschlichen suchen dürfen? Selbst wenn er in d«r 
Negativität jenes Wissens bcharrt, erfaßt «r doch die immer 
währende Tragik seiner Position, die ihm nicht gestattet, smni- 
licher Schwierigkeit^ von sich allein aus Herr zu werden; 
Md tritt er als Christ oder Jude aus dem nur-tWgischen Be- 
: reich hevaus in die Perbimdenheit des GlaubcnS^beWs, da^!- 
! n»g er zwar in der Welt wiÄen, aber er geht nicht oua; ein 
und aus in ihr, er mag der Erlösung gewiß sein, auf Selb st- 
erlösung aber wird er nimmermchr bauen. 
Kultur, das steht fest, bleibt ihm stets auch Wen sK r>- 
werk, das als solches gleich ihm der Bedingtheit und 
ist. Statt also zu wähnen, daß es dem Mensch« gegeben i-k, 
1.willkürlich und nach freiem Ermessen eins ideale, nr.cch'l 
vollkommene Kultur zu verwirklichen, erblickt er PrÄmchr in 
der UnvoMsmmenheit 'menschlicher Zustände lediglich mnv M 
! stätiMNg dafür, daß Kultur weder heute, noch morgen, noch 
überhaupt etwas EndMttgeS, Nbsch-lußhaftes bedeittst. MchW 
hindert ihn daran, sie innerhalb ihr« Grenzen zu bejahen 
so zwischen nihilistischem Kulturpessimismus und schranken 
losem KulturöptimiZnMs -di«. ungefähr« Mitte zu wahren. 
Kultur als letztes Wort und höchsten Wert anzunehmen, ist 
t-em Menschen ein für allcmal versagt. 
Der entfesselte Geist des neunzehnren Jahrhunderts, soweit 
er hier in Betracht kommt, ist ganz und gar von dem 'Streben 
nach Selbsterlösung erfüllt. All sein Denken kreist um 
den Begriff der Kultur, und die HerbÄffHruug des idealen 
irdischen Endzustands wird ihm zur Aufgabe der Aufgaben. 
Da er, seiner BeNugHÄt nicht mehr eingedenk, sich unbedingt, 
setzt, muß Hm ja auch in der Tat. so scheinen, als könne 
menschlicher Wille traft seiner Allmacht jedweden Mangel be 
heben, und Äs sei das Kommen des „Reiches Gottes" d'e Frucht 
rein ÄwevgeschichÄlcher Entwicklung. Solche HOriS straft sich 
indessen selber. Denn dadurch, daß der Mensch sich göttlich« 
Funktionen LrKegt und sich vermißt, den menschlichen Fort 
schritt von sich aus unbegrenzt M fördern, gibt er eben 
die Position preis, in der er der Sache der Weit gerade am 
besten zu dienen vermöchte. Er ist nämlich wahrhaft ihr Diener 
nur, wenn er ihr nicht unmittelbar dient ,sondern sich über sie 
hiiMUZspsnnt zu dem, was mehr ist als sie selber und alle 
Kultur. Diese seiner Bedingtheit gemäße Haftung verweist ihn 
gemA -dorthin, 'wo fein eigentliches Heil liegen mag, und da 
er, sie einnehmend, seiner wesentlichen Bestimmung gerecht wird, 
befähigt sie ihn auch allererst dazu, den entscheidenden Kampf 
mit der Welt auszunehmen. 
Entkleidet er dagegen das Menschliche seiner Fragwürdig- 
keit und -erhebt die Höherentwicklung der Kultur zum Selbst 
zweck, so -vereitelt er von vornherein jene Bemühung um sein 
HM, Äs deren Folge allein sich "unter Umständen die welt 
lichen Behältnisse richtiger ordnen. Daß er das Ideal der 
vollkommenen Kultur in den Mittelpunkt rückt, stÄt seine Krea- 
türliWsit mit ins Kalkül einzubeziehen und der Gnade den 
Hr gebührenden Anteil einzuräumen, ist also seine schwerste 
Verfehlung gegen dieses Ideal. Damit verrät er sozusagen 
Gott an die Wflt und stveicht just die einz'ge Bedingung, unter 
der Kultur überhaupt erreichbar wird. Er macht zum letztem 
Ziel, was nur mögliche Folgeerscheinung eines Trachtens sein 
bann, das nicht der Kultur Mer gilt, sondern über sie hmaus- 
führt zu Gott als ihrem letzten Grunde; kein Wunder, daß das 
Ideal wie-eine morMLS zerfließt, wenn er sich ihm cm- 
zunGern sucht. Wird es zum Gegenstand, s ist es für immer 
verloren; zugänglich bleibt «S denen allein, die es nicht 
be'Äwm. 
"Gleichviel, ob die Lehren des neunzehnten Jahrhunderts 
«in rationalistisch begründetes Humanitätsideal aufstellen, oder 
in «ine wie immer religiös getönte Kulturgestalt einmünden; 
AMM sM, Witz sitz sich ihr Ziel verwirklich-t^eMm -K IN
	        
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