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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.05/Klebemappe 1926 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

MtLerschastskülender", ein wildes Prachtstück aus dem Jahre 1770 
dem Todesjahr des Rokoko. Nun kommt „Oours sei^e" das mit 
'^ 
bracht. 
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röntgenhafter Blick dringt unter die Haut und prüft 
die Menschen auf Herz und Nieren. Die Körper der 
Kranken sind seine eigentlichen Privatgemächer; in 
sie zurückgezogen, vergißt er die Außenwelt, an 
die ihn nur noch der Wall der Assistenten und 
Schwestern erinnert. Die Maler sind überall daheim, 
ausgenommen in ihrer Wohnung. Sie ist ihnen ein 
Gegenstand oder eine Galerie. Jenes, weil sie voller 
Schatten- und Lichtwirkungen ist; dieses, weil sie 
Wände enthält, die mit Bildern und Skizzen bedeckt 
werden können. Es ist nicht einzusehen, warum die 
Maler sich in ihrer Häuslichkeit anders verhalten 
sollten als auf Plätzen oder in der Natur. Be- 
trachte^ sind ^überall, und ein Reflex hat für sie 
Beweisführung ab, die Taschentuchwimpel sind hoch 
gezogen, weil der Gerichtssaal- unsichtbar ihn umgibt. 
Selbst in seinen Träumen erringt er dialektische Siege. 
Auch zu Hause verläßt ihn die Korrektheit nicht, in deren 
Schein er sich hüllt; eine imaginäre Gesellschaft ist bei 
ihm stets zu Besuch. Der Chirurg hat sein Heim in den 
Hör- und Operationssälen aufgeschlagen. Jedenfalls ist 
er an diesen Stätten häufiger zu erreichen als zu Hause, 
wo er immer fortgerufen werden kann. Unbewaffnet tritt 
er überhaupt nicht auf; führt er kein Messer mit sich, so 
sichert er sich zum mindesten durch ein Hörrohr, um gegen 
die inneren Organe jederzeit gerüstet zu sein. Angriffs- 
lustig hat er den Gummihandschuh übergestülpt, der 
Arbeitskittel dünkt ihm wohnlicher als der Smoking. Sein 
„Der Irrgarten der Leidenschaft." Ein Irrgarten ist es ge 
rade nicht, der in diesem Film sich auftut. Oder kann man sich in 
der Seele einer Revuetänzerin verlaufen, die ihren armen Bräu 
tigam einem Fürsten opfert, dessen Mailreffe sie wird? Ihre Freun 
din ist dafür ein Muster des Anstands, und irrt sie sich auch zu 
nächst in dem Mann, der ihr erkoren, so begeht sie doch gewiß 
keine Verirrung. Im Gegenteil, die Tugend wird belohnt, und 
sie kriegt am Ende den Bräutigam der andern, die ihrer Unmoral 
wegen ins Unglück gerät. Begebenheiten, die öfters geschehen und 
Uotz ihrer Verzierung mit oberitalienischer Landschaft und einem 
Stück gestellten Afrikas viel zu schleppend aufgezogen sind. Durch 
gutes Spiel und einige hübsche Episoden wird immerhin das 
Niveau einigermaßen gehalten. — Das Beiprogramm der Saal 
burg-Lichtspiels bringt noch zwei Grotesken, deren eine 
das rechte amerikanische Tempo hat. 
Aismus des „Negence-SLiles" ist. Gute Beispiele: Ein immer 
währender Kalender" in gedämpften Tönen und der „Rheinncke 
" 
Eigentlich sind sie gar nicht zu Hause, die berühmten Männer, sie sind viel zu 
berühmt, um ein Gesicht zu tragen, das in die vier Wände paßt. Am heimischsten 
zeigt sich noch der Astronom, der am fernsten weilt. Im Vergleich mit der Oeffent- 
lichkeit des Weltalls verschwindet ihm die der Straße; und da er, um in jene zu 
gelangen, die Studierstube nicht verlassen muß, kann er die Miene friedlicher 
Abgeschiedenheit wahren. Auf seinem Stuhle sitzend, pflegt er mit der Venus 
Verkehr, ein Blick durchs Fernrohr versetzt ihn ans Ufer der Marskanüle. Der 
Verteidiger hingegen hält auch im Boudoir seine Plädoyers. Ist er allein, so 
prozessiert er gegen Unbekannt; die leblosen Möbel sind ihm ein Forum. Sein 
Scheitel ist ein Argument wider den Staatsanwalt, das Lächeln schließt die 
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Am Kinde gesündigt. Dieser Fox-Film, den die Drexel-- 
Lichtspiele zeigen, gehört Zu den realistischen, amerikanischen 
! Filmwerken, die das Gegenstück der Grotesken sind. Eine primitive 
, Handlung, reich an Sentimentalitäten wird darin eingefangen: 
i das Schicksal einer Mutter, die ihren ältestem Sohn zu sehr ver 
wöhnt, und gerade durch ihn enlauscht werden muß. Weil ihm 
ihr Herz zugewandt ist, verlassen die anderen Kinder sie..Zuletzt 
sind sie es natürlich, die der Verarmten und Hilflosen sich an 
nehmen und auch den endlich geläuterten Aeltesten ihr wieder 
Zufuhren. Getragen wird diese Familiengeschichte durch chaE/Sch 
der Mary Carr. Sie beißt im Text, geschmacklos genüg, die 
„beste Mutter-Darstellerin , aber sie hebt in der Tat als Mütter 
die triviale Begebenheit in die Sphäre der Kunst. Zärtlichkeit, 
Milde und Würde: diese Worte, die selten nur rechtmäßig 
wenden sind, hier wird Wirklichkeit ihnen zuteil. Gestaltet ist, zu 
mal der Rebergang ins Alter, der Zustand' 
zslne Szenen reden unmittelbar: jene, in der die Mutter sich in 
ihre Räume zurückzieht, weil der Sohn, der Gesellschaft gibt, ihrer 
sich schämt; dann ihr Gang an dem versteigerten Mobiliar vorbei; 
ihre Suche nach Arbeit und ihr Wiedersehen mit dem Mißratenen. 
Gesicht und. Gesten lassen nichts schuldig, das Spiel gibt Gelebtes. 
Um dieser Darstellerin willen sollten viele den Film sehen. Auch 
, das Beiprogramm ist übrigens gut. Hinter dem Titel: „Der Schrei 
nach dem Kinde" verbirgt sich eine lustige Monty Banks- 
Eroteske, in der wieder einmal auf tolle Weise verfolgt wird. Auch 
treffliche südamerikanische Naturaufnahmen werden ge 
schönen TiÄrl- und Umschlagblättern, oder e'ine mit dem ^Taschen- 
buch der DentwüridgkeiLen des schönen Geschlecht" vertreten ist. 
Das Drängen nach der Antike, die man als Natur im Sinne 
Noufseaus begriff, hatte nach der französischen Revolution sehr 
Angenommen. In Deutschland tritt ihm die Romantik zur Seite 
mit naturalistischen Einschlägen untermischt. Das Ornament des 
19. Jahrhunderts weist demgemäß eine Reihe historisierender 
Tendenzen auf, in denen mittelalterliche Motive stark hervortreten. 
Zum Schluß streifte die Rednerin kurz die Entwicklung der 
Mode vom 18. Jahrhundert an. Sie würolgte vor allem die 
Verdienste des braven und fleißigen Chodoviecki, der in un 
zähligen Modekupfern auf diesem Gebiet Erstaunliches geleistet 
Hat. Ihre Ausführungen zeigten. Laß die jeweilige Mode einer 
Zeit genau im Einklang mit dem Ornament und den übriger: 
Auswirkungen des Stilgefühles steht. s 
Der Mathematiker der Frankfurter Universität, Pros. Paul 
Epst ein, gewährte einen Einblick in die astronomische 
Grundlage der Kalender. Der erste natürliche Kalender war von 
jeher der Lauf des Mondes. Daneben bot sich als andere gleich 
wichtige Einteilung der jährliche Lauf der Sonne an. Da er schwre- 
riger zu beobachten ist, sind fast alle Kalender anfänglich reine 
Mondkalender, wie heute nur der mohammedanische Kalen 
der noch. Der durch Hillel emgefühcte jüdische »ratender berück 
sichtigt das Sonnenjahr insofern, als er im Verlauf von neunzehn 
Sonnenjahren die sieben Monate, um die hinter jenen die nsuu- 
zchn Mondjahre Zurückbleiben, in regelmäßigen Abständen ein- 
fügt. Bei unserem Kalender kommt als Einteilungsprinzip noch dts 
Woche hinzu. Sie ist wohl semitischen Ursprungs um, hat historisch 
soziale Gründe. Die Namen der Wochentage gehen auf die Astro 
logie Zurück; jede Stunde des Tages hat einen der sieben Planeten 
Zum Regenten, und zählt man die Stunden ab, so kommt jeder 
Planet einmal als Regent eines Wochentages in Befracht. Die 
wahre Umlaufszeit der Sonne ist 365^ Tage, weniger elf Minu 
ten und vierzehn Sekunden. Nun geht unser Kalender auf die 
Reform von Julius Caesar im Jahre 46 zurück. Caesar 
hat das Jahr auf 365 Tage festgelegt und in jedem vierten Jahre 
einen Schalttag einöezogen. Die damit gegebene Ungenauigkeit 
läuft in 128 Jahren zu einem Tage auf. Eine Schweirigkeit bei 
unserem Kalender erwächst aus den kirchlichen Belangen, oie 
für die Beibehaltung der Mondrechnung sind, nach der sich die 
beweglichen Feste regeln. Diese Bedürfnisse bringen es mit sich, 
daß der Sonnenkalender durch den Mondkalender gleichsam über 
lagert wird. Pros. Epstein legte im Folgenden dar, wie in unserem 
Kalender die Osterrechnung und die Bestimmung der Wochentags 
fich V.MZichb Zum Geschichtlichen bemerkte er noch, daß der Fehler 
des Julianischen Kalenders bis zum Ende des 16. JahrhunoeNs 
auf Zehn Tage angeschwollen sei (der Frühlingsanfang wäre also 
damals bereits auf den 10. März gefallen). Darum wurde schon 
um 1580 durch eine von dem Papste eingesetzte Kommission die 
Gregorianische Kalenderreform beschlossen. "Dank 
ihrer seitdem gültigen Bestimmungen ist der Fehler jetzt auf zwölf 
Sekunden herabgemindert wodden; das hoißt: erst nach dreitausend 
Jahren beträgt er jeweils einen Lag. Auch die Mondrechnung 
wurde durch die Kalenderreform in Ordnung gebracht. 
Als letzter Redner fügte Privatdozent Dr. Spam er einige 
„kurze Fuß- und Randnoten" an, die einen fesselnden kultur 
historischen Überblick gaben. Seine Ausführungen bewegten 
sich in ähnlicher Richtung wie seinerzeit der Eröffnungsvorirag 
von Herrn Moritz Sondheim, über den wir damals im „Stadt 
Blatt" vom 23. Februar eingehend berichtet haben. -- Den drei 
Rednern ward durch Herrn Paul Hirsch in einem kurzen Schluß 
wort der Dank der Zuhörer zuteil. lO.
	        
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