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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.05/Klebemappe 1926 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Die Mißet auf Deutsch. 
Zur Übersetzung von Martin Buber und 
Franz Rosenzweig. 
Von Dr. Siegfried Kraeauer» 
Erschienen ist: „Das Buch im Anfang", der erste 
Teil einer auf zwanzig Bände berechneten Übersetzung des 
Alten Testaments*); Martin Buber und Franz Rosen- 
Zweig sind die Verdeutschen Das Unternehmen bezeichnet 
eine Stufe ihrer Entwicklung, die nicht allein die ihre ist. 
Rosenzweig, dessen Erkenntnisleistung tiefer als die Bu'öers 
führt — sie ist schwerer zugänglich darum —, hat in seinem 
philosophischen Hauptwerk: „Der Stern der Erlösung", einer 
an gültigen Interpretationen reichen systematischen Konzeption, 
die Abkehr von der verfallenden idealistischen Philosophie 
grundsätzlich zu vollziehen gedacht; als exemplarischer Ausdruck 
einer ihrem Abschluß zudrängenden Zeit ist das Buch ein ge 
schichtliches Dokument hohen Ranges. Er hat im Sinne jener 
Abkehr durchaus folgerichtig dann die Haft in der Wirklichkeit 
des religiös gebundenen jüdischen Lebens gesunden. Die 
Gründung des Freien jüdischen Lehrhauses zu Frankfurt und 
etwa die Jehuda Halevi-Uebertragung belegen nach außen hin 
seine Wendung von der Theorie Zur Praxis. Buber, der 
Führer eines Teils der jüdischen, zumal der zionistischen 
Jugend, begegnet sich in dieser Wendung mit ihm. Der deutschen 
OessentlichkeiL ist er weniger durch seine Übersetzungen aus 
der östlichen Literatur, als durch seine jahrzehntelangen Be 
mühungen um die Erschließung des Chassidismus bekannt.! 
Ihr Ertrag ist die Reihe der von ihm herausgegebenen chassi- 
dischen Legendensammlungen, die zu einem ansehnlichen Zu 
wachs des westeuropäischen Bildungsguts geworden sind. 
Die von ihm und Rosenzweig heute dargestellte Lebens 
und Erkenntnishaltung darf nur mit Vorbehalt eine „religiöse" 
genannt werden. Der Begriff duldet Anwendung, wenn er nicht 
wie üblich der Abgrenzung eines eigenen Sonderbereichs, eben 
des religiösen, dient, sondern auf eine Form des Existierens 
hinzielt, die, ihrer Intention nach, den ganzen Menschen in die 
Wirklichkeit setzt. Eine Lebens Praxis ist mit ihm ge 
meint, die auf dem Grunde der realen Beziehung Zu den 
wesentlichen, hier durch die Schriftzeugnisse des Judentums 
vermittelten Wahrheitsgehalten gedeiht; nicht eine theoretische 
*) «Die Schrift". Au verdeutschen unternommen von Martin 
Buber gemeinsam mit Franz Rosenz we i g. Verlag LaMert 
Schneider, Berlin. - ' 
Bewußtseinseinstellung oder ein rein innerreligiöses Unter 
fangen nach Art der liturgischen Bewegung. 
Aus dem Willen zur Bekräftigung eines solchen Lebens 
mag die neue Verdeutschung entstanden sein.. Man wird sie 
nicht als ein abgelöstes literarisches Produkt zu verstehen haben, 
vielmehr als Zeugnis und Wirkung eines religiösen Kreises 
— sei. er faktisch vorhanden oder erfragt. Die Erwartung der 
Antwort bestimmt ihre Form. Nur die Absicht, unmittelbar 
den ganzen Menschen oder die Gemeinschaft gar anzusprechen, 
kann Zu ihrer komm entar losen Darbietung bewogen 
haben. Das Weglassen des textkritischen Apparats setzt nicht 
minder die Ueberzeugung voraus, daß das Schriftwort seine 
bleibende Macht bewähre. Die Verfasser streben die wörtliche 
Uebersetzung und rhythmische Treue an; den Grundsätzen ge 
mäß, die Rosenzweig in seinem Jehuda Halevi entwickelt hat. 
Die hebräische Sprache soll nicht verdeutscht werden, sondern 
das Deutsch in jene sich hineindehnen, um mit der Gewalt des 
Ebenbilds die ihm Zugewandten zu ergreifen. 
So wesentlich die philologische Ausgabe ist, vor die der erste 
Band stellt: die Begleichung des Textes mit dem Original, 
die Erörterung der Rhythmik, die Diskussion der Abweichungen 
von der masoretischen (d. h. von der in der jüdischen Ueberliefe 
rung maßgebenden) Fassung — sie ist die nächste nicht. 
Dringlicher meldet die Verpflichtung sich an, die in sich ge 
schlossene deutsche Sprachform der Uebersetzung selber 
Zu prüfen; eine Beschränkung des Aspekts, die unbedenklich ist, 
weil die Autoren tatsächlich sachkundig und gewissenhaft ver 
fahren sind. Durch die Sprachanalyse wird die Haltung mit 
bezeichnet, der das Werk zugehört, ihr sprachlicher Ausdruck 
macht mittelbar ihren eigenen Sinn transparent. Sie ist die 
des religiösen Kreises, den die Verdeutschung zunächst erreichen 
mag. Im Zeichen der „religiösen Erneuerung" haben sich 
auch innerhalb der katholischen und protestantischen Einfluß 
sphäre Gruppen gebildet, die mit der um Buber und Rosen- 
zweig gescharten formal darin übereinstimmen, daß sie den 
Menschen auf die in der Religion eröffneten Wahrheiten wie 
der zu beziehen trachten. Für sie auch wird Zutreffen müssen, 
was von dem idealen Lesezirkel des Bibelwerks etwa sich aus 
sagen läßt. Die Sprache gleicht dem Fleck zwischen Siegfrieds 
Schulterblättern, auf den das Lindenblatt gefallen ist; an dem 
Leib der mächtigen Realitäten ist sie die einzige Stelle, die der 
Zauber des Drachenbluts nicht schützt. 
* 
Nicht wie für die Uebersetzung anderer Texte sind für die 
des Bibelwerks ästhetische Kriterien vorwiegend die Norm. 
Zum Unterschied von jenen, die in der Zeit stehen und mit 
ihrem Ablauf sich wandeln, fordert, dieses zu Mn Zeiten 
Geltung als Wahrheit. Das durch seinen Wahrheitsanspruch 
legitimierte Verlangen, unmittelbar in die Gegenwart zu 
wirken, stellt das rein ästhetisch Gebotene hinter die Er 
len ntnispflichten des Uebersetzers zurück, da es vorab 
den Punkt ihn finden heißt, an dem die von dem Wort gefaßte 
Wahrheit in die Zeit eindringen könne, auf die sie als Wahr 
heit Bezug haben muß. Der Inhalt dieser Erkenntnis ent 
scheidet über die Möglichkeit der Uebersetzung und ihre Form; 
er kann eine Haltung dem Original gegenüber verwehren, 
die bei anderen Texten innerästhetisch angemessen wäre. 
Vorchardts Uebertragung der Göttlichen Komödie in das 
Deutsch jener Epoche, eine im Bereich des Bloß-Aesthetischen 
rechtmäßige Leistung, entspringt einem Prinzip, das auf den 
Bibeltext dämm schon unanwendbar ist, weil es ihn in einen 
ästhetischen Abstand rückte, der seine Wahrheit ihres Sinnes 
beraubte. Ihr zur Gegenwart zu verhelfen freilich ist nicht 
gleichbedeutend mit der schlechten Anpassung an sie. In einer 
dem Bibelwort entfremdeten Zeit ist seinem Gehalt auch mit 
einer Uebersetzung nicht gedient, die den Eingang in den 
vulgären Sprachgebrauch nur durch die Preisgabe des ur 
sprünglich Gemeinten erkauft. Die geheißene richtige Aktua 
lisierung der Schrift widersetzt sich dem Kompromiß, der 
das Wort zerstört, das er zu vermitteln wähnt. Sie wird ihrem 
Wesen nach von revolutionärem Geist eingegeben sein müssen, 
denn die Wahrheit geht in dem Bestehenden nicht auf. Der 
Urtext kehrt in seine nicht zu übertragende Abgeschiedenheit 
zurück, wenn die revolutionäre Sprache einer Geschichts- 
periode, die Sprache, die, wie verwandelt und unvollständig 
immer, nun allein das Wahre trifft, von seinen Formu 
lierungen sich losgesagt hat. 
Die Lutherbibel ist in jenem Sinne aktuell. Dank 
der geschichtlichen Konstellation findet zur Zeit ihrer Abfassung 
der revolutionäre Protest gegen die kirchlichen Mißstände, die 
zugleich gesellschaftlich-ökonomische sind, seinen genauen Aus 
druck in dem Rückgang auf das Wort der Schrift. Ihre Ueber- 
setzung ist ein Kampfmittel gewesen, das dem „Papistischen" 
Gebrauch der Vulgata hat Abbruch tun sollen. Durch ihre' 
Aktualisierung bewährt sich hier die Wahrheit der Bibel, das 
Religiöse greift (wie später bei der Pentateuch-Uebersetzung 
Moses Mendelssohns) auf das Politisch e über, dem es sich 
nicht verweigern kann, wenn anders die Unwahrheit in der Welt 
vor ihm vergehen soll. Die Eignung zum revolutionären In 
strument aber schuldet der Luthertext nicht zuletzt dem Um 
stand, daß in der Stunde seiner Entstehung das weltliche 
Denken die Emanzipation vom theologischen noch kaum be 
gonnen hat. Ihre innige Beziehung nur erMöglicht die Aus 
weitung der „gemeinen" deutschen Sprache zur biblischen, den 
Einfall dieser in jene: eine Enteignung des sorgsam gehüteten 
Besitzes der konservativen kirchlichen Mächte, der im Dienst 
der Neubereitung einer währen Ordnung unter das niedere 
Volk ausgestreut wird. Vorbildhaft genug, wenn auch nicht 
nachzuahmen mehr, holt Luther so die Schrift aus den un 
nahbaren Sphären in das Volksleben herein, reißt sie nach 
unten, an den geringsten Ort, zu dem es die Wahrheit hinzieht, 
weil die Konstruktion des menschlichen GefÜges ihre Fehler 
stelle hier hat. „Nur keine Schloß- und Hofwörter", schreibt 
er an Spalatin. „Dies Buch will nur auf einfältige und ge 
meine Art erklärt sein." 
- -K 
Da^ Profane ist den theologischen Kategorien langst 
entwachsen, die es zur Reforwationszeit noch annähernd decken 
konnten, oder zum wenigsten sein gemäßer Ueberbau waren. 
Aus ihrer Hülle haben Interessen sich herausgeschält, die nur 
mehr weltlichen Charakters sind; den Gemeinschaften der posiiti- 
ven Religionen steht die Gesellschaft als zu sich selber gekommene 
Größe mit eigenen Begriffen und Zielsetzungen gegenüber. 
Bei ihr, nicht, bei jenen, ist in der Gegenwart die Aktualität. 
Sie ist genau dort stets, wo das Zusammenleben der Menschen 
in der Wahrheit entscheidend gefährdet wird. Als faktisches 
Hindernis des rechten Miteinanders aber sind die wirtschaft 
lichen und sozialen Machtverhältniffe erkannt, die bis in die 
letzten Verzweigungen hinein die geistige Struktur der heutigen 
Gesellschaft bedingen. Im Laufe des Geschichisprozesses sind 
sie immer unverhohlener an den Tag gedrungen; die selbst 
gewissesten Kulturen haben verfallen müssen, weil sie auf ihrem 
schlimmen Grund herangereift waren. Es geschieht um der 
Wahrheit willen, die als logischer Zwang im Geschichtsprozeß 
sich kundtut, daß der weltliche Bereich der ökonomischen Tat 
sachen, die bestimmende Aktualität gewonnen hat. Denn sind an 
der Eigenmacht der materiellen Faktoren die mit ihnen ver 
koppelten kulturellen Gebilde zuschanden geworden, so kann 
nicht anders eine Ordnung erzielt werden, als durch die Ver 
änderung dieser Faktoren, die wiederum ihr nacktes Hervor 
treten aus allen sie bergenden und verbergenden Hüllen zur 
Voraussetzung hat. Der Ort der Wahrheit selber ist darum 
gegenwärtig inmitten des „gemeinen" öffentlichen Lebens; 
nicht weil das Wirtschaftliche und Soziale für sich allein etwas 
wäre, sondern weil es das Bedingende ist. Gewiß ist von ihm 
aus die Region der religiösen und geistigen Erfahrungen nicht 
zu umfangen. Doch einmal ermangeln ihre Gehalte infolge der 
Zerrüttung der sozialen Verhältnisse des realen Fundaments, 
zum andern lenkt das Verweilen in ihr von der Umstellung des 
gesellschaftlichen Seins ab. Die meisten Produkte des heutigen 
Schrifttums, die nach in rein geistigen Sphären sich aufhalten, 
denen eine nicht mehr existente private Einzelperson Wgeordnet
	        
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