Zweideutig wie die Abstraktheit ist das Ornament der
blickt. Durch die Rückkehr zu ihr wäre die einmal erworbene
Fähigkeit zur Abstraktion preisgegeben, nicht aber die Abstrakt
heit überwunden. Sie ist der Ausdruck einer Rationalität,
die sich verstockt. Die in abstrakter Allgemeinheit getroffenen
Bestimmungen von Sinngehalten — so die Bestimmungen auf
wirtschaftlichem, sozialem, politischem, moralischem Gebiet —
geben der Vernunft nicht, was der Vernunft gehört. Die
Empirie bleibt durch sie unbedacht, aus den inhaltsleeren Ab
straktionen kann jede Nutzanwendung gezogen werden. Hinter
diesen absperrenden Abstraktionen erst liegen die einzelnen
Vernunfterkenntnisse, die der Besonderheit der jeweils gemein
ten Situation entsprechen. Trotz der JnhaMchkeit, die von
ihnen zu fordern ist, sind sie nur in einer abgeleiteten Bedeu
tung konkret; nicht konkret jedenfalls im vulgären Sinne, der
mit dem Ausdruck konkret die in dem natürlichen Leben be
fangenen Anschauungen belegt.— Die Abstraktheit des heutigen
Denkens ist mithin doppeldeutig. Von den mythologi
schen Lehren aus gesehen, in denen die Natur sich naiv be
hauptet, ist das Abstraktionsverfahren, wie es etwa die Natur
wissenschaften üben, ein Gewinn an Rationalität, der dem
Prangen der Naturdinge Abbruch tut. Aus der Perspektive
der Vernunft erscheint das gleiche Abstraktionsverfahren als
naturbedingt; es verliert sich in einem leeren Formalismus,
der unter seiner Decke dem Natürlichen freien Spielraum ge
währt, da er die Vernunfterkenntnisse nicht durchläßt, die das
Natürliche zu treffen vermöchten. Die herrschende Abstraktheit
zeigt an, daß der Prozeß der Entmythologisierung nicht zu
Ende gebracht ist.
Das gegenwärtige Denken steht vor der Frage, ob es der
Vernunft sich erschließen oder ungeöffnet gegen sie weiter
treiben solle. Es kann die selbstgesetzte Grenze nicht über
schreiten, ohne daß das Wirtschaftssystem wesentlich ge
wandelt wird, das sein Unterbau ist; dessen Fortbestand zieht
den seinen nach sich. Die ungebrochene Entwicklung des kapita
listischen Systems bedingt also das ungebrochene Wachstum
des abstrakten Denkens (oder nötigt das Denken, in falsche
Konkretheit zu versinken). Je mehr sich aber die Abstraktheit
verfestigt, um so u n b e w ä l t i g t e r durch die Vernunft
bleibt der Mensch zurück. Er wird der Gewalt der Naturmächte
von neuem Untertan, wenn sein aus halber Strecke ins Abstrakte
abbiegendes Denken dem Durchbruch der echten Erkenntnis
gehalte sich verweigert. Statt jene Gewalten zu unterdrücken,
ruft das verfahrene Denken ihren Aufstand selber hervor, indem
es über die Vernunft hinweggleitet, die allein sich mit ihnen
auseinandersetzen und sie beugen könnte. Nur eine Folge der
ungehemmten Machterweiterung des kapitalistischen Wirt
schaftssystems ist: daß die dunkle Natur drohender stets auf
begehrt und die Ankunft des Menschen verhindert, der aus
der Vernunft ist.
Das Krnaweni der Masse?)
Von Dr. Siegfried Kraeauer.
(Fortsetzung und Schluß.)
III.
Der Prozeß der Geschichte wird von der schwachen und
fernen Vernunft gegen die Naturmächte ausgefochten, die
in den Mythen Erde und Himmel beherrschten. Nach der
Götterdämmerung haben die Götter nicht abgedankt, die alte
Natur in und außer dem Menschen behauptet sich fort. Aus
ihr sind die großen Kulturen der Völker gestiegen, die wie
irgendein Naturgebilde sterben müssen, ihrem Grunde ent
wachsen die Ueberbauten des mythologischen Denkens,
das die Natur in ihrer Allmacht bestätigt. Bei aller Ver
schiedenheit seiner Struktur, die mit den Epochen sich wandelt,
hält es die von der Natur gezogenen Schranken stets inne.
Es erkennt den Organismus als Urmodell an, es bricht sich
an der Gestalthaftigkeit des Seienden, es beugt sich dem Walten
des Schicksals; in sämtlichen Sphären strahlt es die Natur
gegebenheiten wieder, ohne zu rebellieren gegen ihren Bestand.
Die organische Gesellschaftslehre, die den natürlichen Organis
mus zum Vorbild der gesellschaftlichen Gliederung erhebt, ist
nicht minder mythologisch wie der Nationalismus, der um
eine höhere Einheit als die schicksalhafte der Nation nicht weiß.
Nicht in dem Zirkel des natürlichen Lebens bewegt sich die
Vernuft. Ihr geht es um die Einsetzung der Wahrheit in
der Welt. Vorgeträumt ist ihr Reich in den echten Mär
chen , die keine Wpndergeschichten sind, sondern die wunder
bare Ankunft der Gerechtigkeit meinen. Es hat seinen tiefen
historischen Sinn, daß Tausendundeine Nacht den Weg ge
rade in das Frankreich der Aufklärung fand, daß die Ver
nunft des 18. Jahrhunderts die Vernunft der Märchen als
ihresgleichen erkannte. In den Frühzeiten der Geschichte schon
ist im Märchen die bloße Natur um des Sieges der Wahr
heit willen aufgehoben. Die natürliche Macht geht an der
Ohnmacht des Guten zugrunde, Treue triumphiert über
magische Künste.
Im Dienste des Durchbruchs der Wahrheit wird der Gc-
schichtsprozeß zum Prozeß der Entmythologisie-
r u n g, der den radikalen Abbau der immer wieder neu be
setzten Positionen des Natürlichen bewirkt. Die französische
Aufklärung ist ein großes Beispiel für die Auseinandersetzung
zwischen der Vernunft und den bis in das religiöse und poli
tische Gebiet hinein vorgeschobenen mythologischen Blend
werken. Diese Auseinandersetzung schreitet fort, und im Ver
lauf der geschichtlichen Entwicklung mag die mehr und mehr
ihres Zaubers entkleidete Natur gegen die Vernunft hin stets
durchlässiger werden.
Masse. Auf der einen Seite ist seine Rationalität eine Re
duktion des Natürlichen, die den Menschen nicht verkümmern
läßt, sondern im Gegenteil, wenn sie nur ganz durchgeführt
wäre, das Wesenhafte an ihm rein herausstellte. Gerade darum,
weil der Träger des Ornaments nicht als Gesamtpersönlichkeit
figuriert, als eine harmonische Vereinigung von Natur und
„Geist", in der jene zu viel unp dieser zu wenig erhält, wird er
transparent gegen den Menschen, den die Vernunft bestimmt.
Die im Massenornament eingesetzte menschliche Figur hat den
Auszug aus der schwellenden organischen Pracht und der
individuellen Gestalthaftigkeit zu jener Anonymität angetreten,
zu der sie sich entäußert, wenn sie in der Wahrheit steht und
die aus dem menschlichen Grund herausstrahlenden Erkenntnisse
die Konturen der sichtbaren natürlichen Gestalt auflösen. Daß
in dem Massenornament die Natur entsubstantialisiert wird:
dies genau ist ein Hinweis auf den Zustand, in dem das allein
von der Natur sich behaupten kann, was der Erhellung durch
die Vernunft nicht widersteht. So sind auf alten chinesi
schen Landschaftsbildern die Bäume, Teiche, Berge nur als
dürftige ornamentale Zeichen noch getuscht. Die organische
Mitte ist herausgenommen und der unverbundene Restbestaud
nach den Gesetzen komponiert, die ein zeitlich wie immer be
dingtes Wissen um die Wahrheit gegeben hat; nicht nach denen
der Natur. Reste nur des menschlichen Komplexes gehen auch
in das Massenornament ein. Ihre Auslese und Zusammen
fassung im ästhetischen Medium erfolgt nach einem Prinzip,
das die gestaltsprengende Vernunft reiner als jene anderen
Prinzipien vertritt, die den Menschen als organische EmheiL
bewahren.
Wird das Massenornament von der Seite der Vernunft
her erblickt, so offenbart es sich als mythologischer
Kult, der in ein abstraktes Gewand sich hüllt. Die Vernunft-
gemäßheit des Ornaments ist mithin ein Schein, den es im
Vergleich mit körperlichen Darstellungen von konkreter Un-
mittelbarkeit annimmt. In Wirklichkeit ist es die krasse Mani
festation der unteren Natur. Sie kann um so freier sich regen,
je entschiedener die kapitalistische Ratio von der Vernunft ab
geschnürt wird und am Menschen vorbei in die Leere des
Abstrakten sich verflüchtigt. Der Rationalität des Massen-
musters ungeachtet erhebt sich mit ihm das Natürliche in seiner
Undurchdringlichst. Gewiß, der Mensch als organisches
Wesen ist aus den Ornamenten geschwunden; aber darum tritt
nicht der menschliche Grund hervor, sondern das verbleibende
Massenteilchen schließt sich gegen ihn ab wie nur irgendein
formaler Allgemeinbegriff. Gewiß, die Beine der Tillergirls
schwingen parallel, nicht die natürlichen Einheiten der Leiber,
und gewiß auch sind die Tausende im Stadion ein einziger
IV.
Die kapitalistischeEpocheist eine Etappe auf dem
Weg zur Entzauberung. Das dem heutigen Wirtschaftssystem
zugeordnete Denken hat eine Beherrschung und Benutzung der
in sich geschlossenen Natur ermöglicht, wie sie keiner früheren
Zeit noch beschieden war. Entscheidend ist aber nicht, daß
dieses Denken zur Ausbeutung der Natur befähigt — wären
die Menschen nur Ausbeuter der Natur, so hätte Natur über
Natur gesiegt — sondern daß es von den natürlichen Be
dingungen immer unabhängiger macht und so Raum schafft
für das Eingreifen der Vernunft. Seiner zum Teil aus der
Märchenvernunft stammenden Rationalität, wenn auch
ihr nicht allein, find die bürgerlichen Revolutionen der letzten
hundertfünfzig Jahre zu danken, die mit den naturalen Ge
walten der in die Welt verstrickten Kirche, der Monarchie und
des Feudalwesens abgerechnet haben. Die unaufhaltsame Zer
setzung dieser und anderer mythologischer Bindungen ist das
Glück der Vernunft, da sich nur an den Zerfallstätten der
natürlichen Einheiten das Märchen verwirklicht.
Doch die Ratio des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist
nicht die Vernunft selber, sondern eine getrübte Vernunft. Von
einem bestimmten Punkte ab läßt sie die Wahrheit im Stich, an
der sie einen Anteil hat. Sie begreift den Menschen
nicht ei> Weder wird durch die Rücksicht auf ihn der Ab
lauf des Produktionsprozesses geregelt, noch baut sich die wirt
schaftliche und soziale Organisation auf ihm auf, noch ist über
haupt an irgendeiner Stelle der Grund des Menschen der
Grund des Systems. Der Grund des Menschen: denn nicht
darum handelt es sich, daß das kapitalistische Denken den Men
schen als ein historisch gewachsenes Gebilde pflegen solle, daß
es ihn als Persönlichkeit unangefochten lassen und die von
seiner Natur gestellten Ansprüche befriedigen müsse. Die Ver
treter dieser Auffassung werfen dem Kapitalismus vor, daß
sein Rationalismus den Menschen vergewaltige, und sehnen
die erneute Heraufkunft einer Gemeinschaft herbei, die besser
als die kapitalistische Gesellschaft das vermeintlich Menschliche
berge. Von der verzögernden Wirkung solcher Rückbildungen
abgesehen: sie verfehlen das Gebrechen des Kapitalismus im
Kern. Er rationalisiert nicht zu viel, sondern zu wenig.
Das von ihm getragene Denken widerstrebt der Vollendung zur
Vernunft, die aus dem Grunde des Menschen redet.
Das Zeichen des Orts, an dem sich das kapitalistische Den
ken befindet, ist seine Abstraktheit. Durch ihr Vor
herrschen heute wird ein geistiger Raum gesetzt, der sämtliche
Aeußerungen umfängt. Der gegen die abstrakte Denkweise ge
richtete Einwand, daß sie die eigentlichen Gehalte des Lebens
nicht zu fassen vermöge und darum einer konkreten Betrachtung
der Erscheinungen zu weichen habe, deutet gewiß auf die
Grenze des Abstrakten hin, wird aber voreilig erhoben, wenn
er zu Gunsten jener falschen, mythologischen Konkretheit er
folgt, die in dem Organismus und der Gestalt das Ende er