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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.07/Klebemappe 1928 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Sammlung und richtige Anordnung der auseinander streben 
den und miteinander ringenden Mächte bemüht, deren Schau 
platz er selbst und mit ihm die Zeit war. Daß er, wie wenige 
von diesen Mächten angetroffen wurde, daß Hölle und Himmel 
in ihm waren, haben alle gespürt, die ihm begegneten. Er hat 
Konvertiten gemacht, und auch dann, wenn er sich der Nach 
folge entzog, find Schüler und Anhänger, Freunde und Geg 
ner der entschwindenden Erscheinung wie einem Meteor mit 
den Blicken gefolgt. 
War die Bahn dieses spätbürgerlichen Menschen und Philo- 
sophsn unberechenbar? Wir glauben er nicht. Sie hielt trotz 
innerer und äußerer Schwierigkeiten, trotz des umfänglichen 
Denk- und Lebenssystems, das mehr als einmal in Be 
wegung zu setzen war, mit erstaunlicher Folgerichtigkeit einen 
bestimmten Kurs inne. Ihr Verlauf, d er sich heute schon <rb- 
zuheben beginnt, bezeichnet annähernd den der Epoche, 
* 
AIs Schüler des etwas verbissenen Kulturphilosophen und 
Nobelpreisträgers Gucken hat sich Schaler 1900 mit einer 
Arbeit: „Die transzendendÄe und die psychologische Methode" 
habilitiert, die im Jahre 1922 neu aufgelegt worden ist. Die 
Schrift übt in veralteter Terminologie an dem damals noch 
verhältnismäßig unangekränkelten formalen Idealismus und 
dem Psychologisnms Kritik, und mit Recht bemerkt Scheler 
indem Vorwort zur Neuauflage, daß sich schon in jener 
Betrachtung die später von ihm vollzogene Wendung zur 
Ontologie und zum realistischen Weltbegreifen ankündige. 
Sichtbar wurde sie, nach einer Pause von über einem Jahr 
zehnt, in seiner kurz vor KrieOausbruch erschienenen be 
deutenden Abhandlung: „Zur Phänomenologie der Sym 
pathiegefühle." Sie enthielt im Keim die Grundelemente des 
Schelerschen Denkens. 
Es ist ein Denken, das sich, beeinflußt durch Huffeck, von dem 
Funktionalismus der herrschenden neukantianischen psycho 
logistischen und historistischen Philosophien abkehrt, um nach 
der einen Seite hin in unmittelbarer Anschauung den Stufen- 
bau der seienden und zeitlosen geistigen Wesenheiten zu er 
fassen. Nach der anderen Seit« hin dringt es zum Unterschied 
von dem Formalismus jener Philosophien, den auch Husserl 
mit ihnen teilt, in die materkalen Bestände der Welt ein und 
möchte die Beziehung sämtlicher empirischer Fakten in Natur 
und Geschichte zu dem Reich, der geistigen Wesenheiten er 
hellen. Die dämonische Person erstreckt sich nach oben in die 
Sphäre der geistigen Gehalte, und st« reicht zugleich tief in 
die Machtpositionen des Unteren, in das Triebleben, in die 
dunklen Seelenregungen, in die Tatfächlichkeiten des histori 
schen und soziale» Geschehens hinein. (Wenn Scheler von 
dem „Bösen" sprach, schien er es manchmal mit darzustellen, 
und so Personhaft hatte er auch Teil an dem „Guten".) 
Während der ersten Kriegsjahre ist Scheler der deut 
schen Oeffenüichkeit durch sein Buch: „Der Genius des 
Kriegs" bekannt geworden, ein sinistres, später von ihm selbst 
verleugnetes Weck, in dem viel schlechter Nietzsche und 
falscher Heroismus sich umtreiben. Er hat noch in anderen! 
aktuellen Abhandlungen seinen Tribut an die jeweilige Zeit 
entrichtet, und überhaupt finden sich in seinen Schriften immer 
wieder Stellen, die, wie der ihm befreundete Troeltsch einmal 
treffend formulierte, „ein« seltsame Mischung von Scharfsinn, 
Tiefsinn und Leichtsinn" find. Sie beiveisen nur, was er ver- 
mullich nicht bestkitten hätte:. Laß auch das trüb« Dasein Ee- 
walt über ihn hatt«, __ 
Dem Gegenpol seines Wesens entstammen die in den großen 
Werken: „Der Formalismus in der Ethik und die Material« 
Wertethik" (1916) und: „Vom Ewigen im Menschen" (1921) 
niedergelegten Gedmcken, die ihn zum Erneuerer augustini- 
scher Katholizität gemacht haben. In beiden Wecken, 
die zusammengehören, ist die Anschauung den höchsten Sinn- 
und Seinsgehalten zugewandt. Eröffnet jenes, unter nahezu 
völliger Ausschaltung der theologischen Shäre, den Blick aus 
das Reich der hierarchisch gestaffelten Werte, von den Sach 
werten an bis zu den Personwerten, bis zur heiligen Person, 
bis zu Gott, so will dieses „die ersten Fundamente des syste 
matischen Baues einer natürlichen Theologie" aufweisen und 
den von seinen zeitgeschichtlichen Hüllen befreiten Augustims- 
muS mit den Gedankenmitteln der phänomenologischen 
Philosophie neu und tiefer begründen. Mögen die Gedanken 
mittel der Phänomenologie fragwürdig sein, Scheler hat mit 
ihrer Hilfe, befähigt hierzu vor allem durch seine außerordent 
liche Gabe der Zusammenschau von Wesenheiten der ver 
schiedensten Seinsprovinzen, einer den religiösen Erkenntnissen 
entfremdeten Welt «inen Zugang zu den kirchlichen Lehren 
geschaffen. In den Jahren der Revolution und Inflation, 
als Viel«, denen aus schlechten oder guten Gründen Max 
Webers asketischer Heroismus nicht genügte, eine Behausung 
suchten, die sie vor der Leere draußen schütze, sind manche durch 
ihn geleitet und auf eine lang verschüttet gewesene Dasems- 
weise aufmerksam gemacht geworden Daß dmnals eine jung 
katholische Bewegung entstehen konnte, die sich hoffnungsvoll 
anließ, war nicht zuletzt sein Verdienst. Sein größtes war 
— es ist unabhängig von dem Gebrauch der phänomenologi- 
schsn Schsinstützen —, daß er dem modernen Denken wieder 
den Eigenbestand halb verschollener Wahrheitsgehalte ins 
Gedächtnis zurückgerufen hat. Das haben ihm auch Prote 
stanten gedankt. 
„Man hat mich für einen katholischen Philosophen ge 
halten," sagte Scheler vor einiger Zeit zum Verfasser dieser 
Zeilen, „ich bin es niemals gewesen." Noch außen hin er 
schienen jedenfalls sein« ungefähr seit Beginn des euro 
päischen. Stabilisierungsprozesses formulierten Erkenntnisse in 
ihren Kernstücken als «in Bruch mit den früheren. In Auf 
sätzen und Reden, am sichtbarsten bisher in seinem 1926 ver 
öffentlichen Wecke: „Di« Wissensformen und die Gesellschaft" 
trat der Umschwung zutage Aus dem Theisten Scheler war, 
wenn man so will, ein atheistischer Metaphysiker 
geworden. Er lehrte in dieser letzten Periode, daß der Katho-, 
lizismus das stärkste Hindernis für die Entfaltung der abend 
ländischen Metaphysik gewesen sei. In der Absicht, das Ge- 
bäuds einer gereinigten Metaphysik auszuftchren, hat er nicht ! 
allein di« neuesten Forschungsergebnisse der Naturwissen 
schaften in den Rahmen seiner Interpretationen einbezogen, 
sondern auch mit ziemlicher Schonungslosigkeit eine Reihe von 
Weltanschauungen und geistiger Haltungen als Idol« be- 
stimnwer Gesellschaftsgruppen enthüllt. Sein Hauptwerk sollt« 
eine „Anthropologie" werden, die er im kommenden Winter 
semester zu vollenden gedachte. Ihre Grundthese, di« er auf der 
vorjährigen Frühjahrstagung der Schule der Weisheit ent 
wickelte, lautet etwa: der „Geist" ist machtlos, alle Kraft liegt 
bei dem Unteren, bloß Naturhaften, beim „Drang". Gott ist 
danach so wenig allmächtig, daß seine Verwirklichung in die 
Hand des Menschen gelegt ist. Ein« Verwirklichung, die 
Scheler, nach jenem Vertrag zu schließen, mit dem am End« 
der Geschichte sich vollziehenden Ausgleich zwischen Geist 
und Dräng gleichgesetzt zu haben scheint. Die Behauptung ist 
nicht zu gewagt, daß das Dämonische in ihm, das sich im 
Unteren verhaftet wußte und das Obere kontemplativ erfuhr, 
von einem Ausgleich die Lösung der Spannung, den Frieden 
«HMe. , , , > 
! Noch ist das Schrifttum Schelers nicht in die Geschichte 
zurückgetreten. Immerhin läßt sich eine Hauptlinie 'der Ent 
wicklung dieses Denkens erkennen. Es entmythologi- 
sierte sich in dem Maße, als es fortschritt. Das heißt: es 
unterwarf mehr und mehr bestimmte naive Einstellungen und 
ungebrochen hingenommene geistige Gebilde der Kontrolle des 
Bewußtseins, indem es sie als Manifestation des Unteren durchs 
schaute. Der Philosoph, der in der Hauptzeit seiner Wirk 
samkeit manche Leuchteffokte seiner Gabe der Verzauberung 
verdankte, entzauberte späterhin seine eigene Welt. 
Daß der gepriesene Erneuerer des Augustinismus seiner 
großen Gefolgschaft den Rücken kehrte, wollte etwas bedeuten. 
Er selbst hat geäußert, wie schwer es ihm gefallen sei, den 
Bruch zu vollziehen. Dem Triebleben den Einfluß zuzw- 
gestehen, den es besitzt, und die Macht der ökonomischen und 
sozialen Fakten anzuerkennen, mußte ihm doppelt schwer wer 
den in einer Zeit, in der, im engsten Zusammenhang mit der 
Stabilisierung des Kapitalismus, eine neue mythologische 
Front sich zu festigen beginnt. Ueberall um Scheler herum 
drangen Anschauungen durch, deren Wachstum er durch die 
von ihm pveisgegebenen zum Teil selbst begünstigt hatte. Eine 
halbe Stunde nach seiner Wendung zum Profanen empfand 
SornbM romantische Sehnsucht nach einem religiösen Gehäuse; 
der Ruhm von Klages ist im Steigen; der Hang zu einer vor 
eiligen Konkretheit hat sich auf große Strecken hin der Geistes 
Wissenschaften bemächtigt und verhindert sie, ihre Situation 
! zu Ende ^mWlhsiereu» RWtzmgen. dk da^ OWjMWWh 
daß sie, mit oder ohne Absicht, zur Konsolidierung der reaktio 
nären Mächte beitragen. 
Scheler ist zum Unterschied von ihnen eine «Höriges 
Stück wmt den Weg der Aufllämng gegangen. Seine 
letzten Schriften lassen an entscheidenden Punkten Lust herein, 
sehen zum mindesten der Realität der gegenwärtigen Gesell 
schaft ins Auge. Mit der Witterung für atmosphärische Er- 
eigmffe, die ihn auszeichnete, hat «r das Zukünftige gespürt. 
Er ist. semer sozi^ Zugehörigkeit nach, der Philosoph des 
fortgeschrittensten Bürgertums gewesen, jenes Bürgertums, 
Las schon «in Uebergang ist, das heute, nachdem es sich ver 
geblich zu allen möglichen Ideologien geflüchtet hatte, bewußt 
und kritisch gegen sich selbst seine materiellen und sozialen 
Dasemsbedmgungen üöerprüst, und auf Grund des Ergeb 
nisses dieser Prüfung seine geistige Haltung einrichtet. 
* 
Für die Frankfurter Universität bedeutet der Tod 
Schelers «inen besonders schweren Verlust. Er war erst vor 
kurzem aus Köln nach Frankfurt berufen worden und hatte 
sein Lehramt noch gar nicht angetreten. Von der Anziehungs- 
krast seines Namens und seiner Person erhoffte sich die Uni- 
versltat einen neuen Aufschwung, und ihm selbst gereichte es 
zur Genugtuung, in dem urbanen Frankfurt wirren zu können. 
an ihn geknüpften Erwartungen sind jetzt zerstört. Kein 
DEer ist heute mehr an unseren Universitäten, der einen 
solchen Realitätsfinn wie er mit einem solchen Wissen um die! 
geistigen Wesenheiten verbände. 
' S. Kracauer.
	        
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