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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Zum neuen Richard 
S. Krakauer. 
Die Tauber-Tonfitm-Produktw 
Film produziert, man kann es ihr 
gurrt und Tauber singt, immerfort muß er in dem Film singen, 
ein himmelblaues Gegurre, eine ununterbrochene Schwelgerei in 
Martha-Arien, Volksmelodien und Liedern. So ist es in Ord 
nung, denn das Publikum will seinen Tauber singen hören. Aber 
die Ohrenweide ist keine Augenweide, und Tauber singt nicht in 
einem richtigen Film, sondern schmettert auch noch den Film 
aus sich heraus. 
Ich will den Inhalt des Films nicht ausführlich erzählen; 
genug, daß er himmelblau ist wie der Tenor. Aber die Schluß 
szene ist immerhin der Wiedergabe wert; sie Zeigt, daß es die 
Bläue in sich hat. 
Am Anfang ist Tauber ein gesangsfroher Hochgebirgler, der 
brav im Kirchenchor mitsingt und sein Mädchen herzt. Er wird, 
wie es sich gehört, von einem Impresario entdeckt und verwandelt 
sich mit Blitzesschnelle in den gefeierten Tenor, der er ist. Seine 
dörfliche Braut — Lucie Englisch ist reizend und ein Trost in dem 
Elend -- fährt eigens nach Berlin, um ihn, wie wir alle, singen zu 
hören, verfehlt ihn durch eine Jntrige, die zerstört worden wäre, 
wenn sie ihn vorher von ihrem Kommen benachrichtigt hätte, aber 
dann wäre die Jntrige nicht erfolgreich gewesen, und reist sofort 
traurig wieder zurück, im Glauben, daß er sie nicht mehr liebe. 
In der Heimat nimmt sie dann einen ungeliebten anderen Mann. 
Man kann sie dazu nur beglückwünschen. 
Doch jetzt geschieht dies: unser Tenor, der angibt, das Mädchen 
Zu lieben, eilt in die Heimat und trifft gerade rechtzeitig Zur 
Hochzeit ein. Seine alte Filmmutter beschwört ihn, nun, da es 
zu -spät sei, unbemerkt abzufahren und den Seelenfrieden der Ge- 
Tauber-Film. 
Berlin, im April. 
hat wieder einmal einen 
nicht verbieten. Die Taube 
uu/' eben Vermahlte ihn unter allen 
Finale hat Publikum seinen ungetrübten Genuß am 
Nehme ich den Film zu ernst? Weil kaum ein-. 
können sie immer wieder produziert werden. Weil fast niemand 
hnen^entgegentrltt, ruiniert ihre Produktion Gewissen und Kunst 
^^rF^bkik^E^ 
^um heißt. „Da s lockende H ? s" 
Uraufführung hielt vor dem Capital der Luxuswagen Zauber« 
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au^aM^^ i^reffelosem Wohlgefallen am Auto, teils 
aus wohlgefälligem Interesse an der Kirnst. Oh, du himmelblauer 
S. Kramn«. 
MoleLarische Schnellbahn. 
Berlin, im April. 
Vor einigen Tagen wurde die Hauptstrecke der Untergrundbahn 
Neukölln —Gesundbrunnen eingeweiht. Sie gehört zu 
dem nördlichen und östlichen Schnellbahnnetz, das früher zugunsten 
der Verbindungen mit den westlichen Vororten vernachlässigt wor 
den war. Wahrscheinlich im Herbst kommt noch die Linie durch die 
Frankfurter Allee hinzu; womit wenigstens für den Osten einiger 
maßen gesorgt wäre. Das großzügige Bauprogramm sah darüber 
hinaus weitere Streckenbauten vor, aber nicht alle Verkehrsblüten- 
träume reifen, die ZeiteE'sind schlecht, und auch die jetzt errichtete 
Linie hat ihrer Finanzierung'wegen schon Anstoß erregt. 
Sie führt mitten durchs ^Stadtzentrum aus Proletariervierteln 
in Proletarierviertel, von Fabriken Zu Fabriken. Eine grenzenlos 
ausgedehnte Arbeiter- und Geschäftswelt wird von ihr unterminiert. 
Die Bahnhöfe sind technisch und Zweckmäßig wie moderne Spitäler, 
mit einfachen Eisenstützen, blank gekachelten Wänden, schmuckloser 
Beschriftung und allen möglichen Lichtsignalen. Eine gute Orga 
nisation, praktisch und völlig hygienisch. Manchmal ist die Eisen 
konstruktion mit Säulenschäften umkleidet, die wahrhaftig ein 
Kapital auf dem Kopf haben; schöne runde Säulen, die man bei 
nahe lieben muß, weil sie ein Anachronismus sind, ein Gruß aus 
einer anderen Oberwelt. Der Bahnhof Rosenthaler Straße sucht 
sogar durch seine rosig angehauchten Wandplatten die Illusion zu 
erwecken, als ob diese Gegend ein Rosental sei. 
Das Publikum, das die Strecke benutzt, sieht freilich nicht eben 
illusionsfähig aus. Die Zeiten sind schlecht, und auch die netten 
Wagen, die sauberen Bahnhöfe helfen nicht darüber hinweg. Männer 
mit Werkzeugmappen, Burschen in Lederjoppen, Büroangestellte, 
Arbeiter, Frauen mit Laschen und Kindern füllen die Bänke und 
Gänge. Sie kommen vom Einkauf oder fahren zum Arbeitsplatz. 
Auf anderen Linien geht es heiterer zu als hier, in den Unter 
geschossen des Wirtschaftslebens. Äele müde Gesichter und nicht 
das mindeste Konfektionsgeschnatter. Zum Glück kräht mitunter ein 
ahnungsloses Kind. Immerhin, die Bahn wird den Hundert 
tausenden in ihrem Umkreis ein wenig das Dasein erleichtern. 
Steigt man irgendwo während der Fahrt aus und aus Licht, 
so wird man, umgekehrt wie in Tausendundems Nacht, nicht im 
glänzende Schlösser, sondern in aufgerifsene Steinlandschaften ver 
setzt. Aber das Unbehagen, das von ihnen ausströmt, ist besser als 
der Scheinfriede der Paläste. Da ist, mitten auf der Strecke, der 
Alexanderplatz: zur Zeit noch sin riesiger Abstellraum, in dem 
Bretterzäune und halbe Hausse aufgespeichert sind. Der Wind 
fegt durch die Lücken ins Bodenlose hinein. Da ist Gesund 
brunnen: ein weitverstreuteZ Gemenge aus Schienensträngen und 
Häuserblockfetzen. Alles nach jeder Seite hin geöffnet und wie 
es gerade kommt; nirgends die Spur einer perspektivischen Glie 
derung, eines für kontemplative Menschen bestimmten Abschlusses. 
Dazwischen larrge Straßen, graue Straßen, Straßen mit Bal 
könen, hinter deren Gittern im Sommer Grün eingesperrt ist, 
Backsteinfronten, Kirchen, Beerdigungsinstitute, Höfe und Kinder. 
Doch Las Leben in diesen Wüsteneien ist unverwüstlich, und gerade 
an den beiden Endpunkten der Bahn signalisiert es gellend. Laß 
es sich nicht unterkriogen läßt. Am Hermannplatz in Neukölln 
erhebt sich der gewaltige Warenhauszwinger von Karstadt, eine 
Msnumentalarchitektur, die mit drohender Geste alle Welt Zum 
Eintreten auffordert, und unmittelbar Hinter dem Bahnhof Ge 
sundbrunnen steigt wie ein nächtliches Plakat die weiße Fassade 
dsx „LichLLurg" empor, die aus lauter schwingenden Horizontalen 
besteht und überhaupt ein Niederschlag neuester Sachlichkeit ist. 
Wenig über eins halbe Stunde Omnibusfahrt, und man ist 
am Kurfürstendamm. Aufgang nur für Herrschaften, Luxus 
karosserien, gut. gekleidete Leute. (Auch hier sind allerdings die 
Zeiten schlecht.) Die beiden Stadtteile, die ineinander übergehen, 
scheinen unabsehbar weit voneinander entfernt. Wieder und wieder 
erschüttert die Erkenntnis, daß der Abstand zwischen ihnen durch 
keim Schnellbahn Zu verringern ist.
	        
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