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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Es läßt sich nicht behaupten, daß Herr von Wiese mit dieser 
ernsten Erkenntnis Lei der Versammlung Glück hatte. Die Dis 
kussionsredner, unter denen sich Kulturbeiräte und Prominente wie 
Professor Dessoir befanden, trugen beinahe durchweg einen Opti 
mismus vor und zur Schau, der ihrer engen Beziehung zur Rund 
funkorganisation genau entsprach. Abgesehen von zwei beziehungs 
losen kommunistischen Sprechern, die den bestehenden Rundfunk 
als ein Kampfmittel der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichneten 
und den proletarischen Sender forderten. 
Die Diskussion förderte, wie immer in solchen Fällen, höchst 
ungleichwertige Einsichten zutage. Zum Teil feierten in ihr leicht 
durchschaubare Ideologien ihre rauschenden Orgien. Um nur ein 
Beispiel zu nennen, meinte ein besonders rundfunkseliger Redner, 
daß durch das Verdienst des Rundfunks ein neuer organischer Be 
griff der Nation im Wachsen sei. Oder es wurde der Bedeutung 
des Rundfunks für die Stärkung der Volksgemeinschaft gedacht. 
Man kennt diesen Ton, der wie vor dem Krieg so auch heute und 
immerdar durch alle Festreden schwingt, diesen Idealismus, der die 
Berührung mit der Wirklichkeit ängstlich vermeidet. 
Die Gesamthaltung war im großen und ganzen die: daß man, 
Herrn von Wiese entgegen, die bloße Vermittlerrolle des Rundfunks 
bestritt und an seiner Tiefenwirkung festhielt („Tiefe kann auch 
volkstümlich sein", sagte einer der Reder, der Herrn von Wiese in 
diesem Punkte wohl mißverstanden hatte); daß man aus der Praxis 
heraus einen verhältnismäßig engen Kontakt mit dem Publikum 
feststellie; daß man nicht zuletzt sämtliche Möglichkeiten unterstrich, 
k über die der Rundfunk trotz seiner Neutralität verfüge. Wenn aller 
! dings die Pastorale Aeußerung fiel, daß der Rundfunk jede destruk 
tiv wirkende Veranstaltung auszuschalten und zur Duldsamkeit zu 
erziehen habe, so zeigt das schon, mit wie falschen Inhalten die 
R Ne d utrali b tät g if e f füllt d werd i en l kan d n i . A C m h richt b igste i n h wurde sie v i on h jen A em - 
ener egren, erseas e ance ezecnee,gegnersce n- 
schauungen kontradiktorisch einander entgegenzusetzen. — Von den 
praktischen Vorschlägen sei nur der eine erwähnt, der empfiehlt, 
nach englischem Muster Rundfunkzirkel zu schaffen. 
Aussprache üöer den Mundfunk. 
FestsitzunganLäßlichdessünsjährLgenBestehens 
der Reichs-Rundsunk-Gesellschaft. 
Berlin, 15. Mai. 
Die Reich-Rund funk-Gesellschaft, die heute vor 
fünf Jahren gegründet worden ist, verunstaltete Zu Ehren dieses 
Ereignisses eine Festsitzung im Plenarsaal des Reichswirt 
schaftsrates. HoffenÜich werden die Dienst- und Dichterjubiläen 
eines Tages nicht auch noch in so kurzen Abständen gefeiert. Man 
hatte den richtigen Gedanken, die Festsitzung als eine Arbeits 
sitzung abzuhalten, wie deren schon mehrere im internen Kreis statt- 
gefunden haben. An der Versammlung, zu der diesmal die Presse 
zugelassen war, nahmen Vertreter der Kulturbeiräte und die Vor 
stände und Prsgrammleiter sämtlicher Rundfunkgesellschasten teil. 
Redner der Tagung war Professor Leopold von Wiese, 
der sich über das Thema: „Die Auswirkung des Rund 
funks auf die soziologische Struktur unserer 
Zeit" verbreitete. Herr von Wiese ging als Universitätslehrer 
und Soziologe an die schwierige Untersuchung heran. Das heißt, er 
gelangte nicht eigentlich von den empirischen Tatbeständen aus 
zu der besonderen Problematik des Rundfunks, sondern leitete sie 
vorwiegend aus allgemeinen Betrachtungen ab. Ohne daß feine 
Darstellung ungeahnte Aspekts eröffnet hätte. Zeigte sie doch die 
sozialen Phänomene, die mit dem Rundfunk neu gegeben sind, 
keineswegs in dem üblichen rosa Licht. § 
Im Verlauf der Strukturanalyse wurden verschiedene Fra 
gen angeschnitten, die in der späteren Diskussion immer wleder- 
kehrten. So die nach der Zusammensetzung des Publikums. Es 
ist Herrn von Wiese zufolge eine Masse, die aber die Rundfunk 
offenbarungen nicht als Masse entgegennimmt, vielmehr in der 
Hauptsache aus isolierten, einsamen Hörern besteht. Ferner: diese 
Masse ist anonym und kann den Darbietungen des Rundfunks 
nicht wie andre Empfängermassen mit einem deutlichen Echo 
antworten. 
Wichtig auch die Einbeziehung des Neutralitätsproblems, bei^ 
dessen Erörterung Herr von Wiese freilich selber etwas in die 
Neutralität zurückwich. Jedenfalls trat nicht ganz klar hervor, wie 
er sie nun beurteilt wissen will. Bezeichnete er zunächst die dem 
Rundfunk auferlegte Neutralität als einen Kompromiß, so machte 
er bald danach aus der Not eine Tugend und erklärte, daß die 
Sendegesellschaften ihre Neutralität im Sinne des „Volksdienstes" 
aufzufassen und zu verteidigen hätten. Also wäre Neutralität das 
eine Mal ein leidiger Zwang und das andere Mal das Zeichen 
oder Vorzeichen irgendeiner Angreifbaren höheren Einheit. Man 
erfährt nicht genau, was sie nun eigentlich für den Redner ist, 
versteht auch nicht recht, warum er seine These, daß der neutrale 
Rundfunk nicht im Interesse der besitzenden Klassen ausgenutzt 
werden könne, gerade mit dem Hinweis auf die öffentliche Kon 
trolle stützen möchte, der das Rundfunkprogramm untersteht. Wo 
nach richtet sich denn die „öffentliche Kontrolle"? Nach den Macht 
verhältnissen der großen politischen Parteien, nach Kräften mithin, 
die keineswegs den Ausschluß bestimmter Interessen garantieren. 
Schließlich prüfte Herr von Wiese die Art der Wirkung, deren 
der Rundfunk fähig ist. Er kam Zu dem Ergebnis, daß die von den 
Sendegesellschaften verabreichten Darbietungen schon ihrer Mannig 
faltigkeit wegen niemals eine Dauerwirkung erzielen können, die 
in die Tiefe geht. Viel eher ist der Rundfunk ein Instrument des 
sozialen Verkehrs, ein Zubringer zu den in anderer Form über 
lieferten Werken, an die er die Hörer heranführen wag. 
Der Verlauf der Sitzung bewies, daß fünf Jahre heute eine 
lange Zeit sind. Schon hat das Denken das Leben eingeholt, schon 
scheint der Augenblick gekommen zu sein, in dem die Probleme 
auskonstruiert werden müssen, die der Rundfunk aufgibt. Je mehr 
h R e a rr u s m che u r n fe d st Zeit beherrscht werden, desto weniger S steh K e r n ac d a ie uer Be- 
. ..
	        
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