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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

daß seine Reden keine Reden mehr seien. Jawohl, so ist es; und hat 
die Rede, die keine ist, noch überdies einen schlechten Inhalt — doch 
Herr Grabowski verzichtet darauf, die Inhalte zu analysieren und 
stellt statt dessen lieber der guten Rede die Aufgabe, dem Vaterland 
zu dienen und für die Völkerversöhnung zu werben. Mit großem 
rhetorischen Schwung. Nach den Mentoren besteigen die Schüler 
das Podium, deren jeder zehn Minuten frei spricht. Macht zusammen 
genau eine Stunde. 
Pros. Hoetzsch gibt als der Vorsitzende des Preisrichterkolle 
giums die Preise bekannt. Bezeichnend genug, daß zum deutschen 
Sendboten in Washington ein junger Rheinländer gekürt wird, 
dessen Rede ein einziges Kulturgeschwätz ist. Dieser neuge 
backene Ur. ein hübscher, korrekter Jüngling, redet 
von der Hingabe ans Objektive, das er nicht kennt, leugnet die 
Utopie ab, als sei er ein Greis, und will die Kulturtraditionen 
weiter entwickeln, die er nicht hat. Ein unverdautes, unverdauliches 
Gemenge ausgelaugter Wahrheiten, die fließend an den Mann ge 
bracht werden. Dafür, daß sie den Beifall der Zuhörer finden 
ist der Junge nicht verantwortlich zu machen. Aber warum über 
nimmt er einfach die abgestandenen Weisheiten, ohne irgendetwas 
eigenes mitzuteilen? Ist es schon traurig, daß die Aelteren so 
wenig aus der Geschichte gelernt haben: doppelt traurig stimmt 
eine Jugend, die sich in diesen aufgewühlten Zeiten widerstands 
los einen Formelkram anheften läßt, der zu ihrer Wirklichkeit 
gar nicht paßt. 
O- 
Sonst treibt sich in den Reden noch häufig verschollener Idea 
lismus um. Tatphilosophie und Lebensphilosophie, die aus den 
Niemand erwartet von Achtzehnjährigen eigene Gedanken. Und 
haben sie einen, so werden sie gewiß nicht öffentlich von ihm 
zeugen. Von vornherein anzunehmen ist vielmehr, daß sie in der 
Hauptsache vortragen werden, was sie in ihren pädagogischen 
Provinzen sich angeeignet haben. Dafür sorgt ja auch schon die 
Sichtung, die widerborstige Elemente vermutlich ausgeschieden hat. 
Die Frage, die an eine solche Konkurrenz zu richten ist, kann 
also nur lauten: in welchen Anschauungen wird unsere höhere 
Schuljugend erzogen? Ich muß gestehen, daß ich mir die Antwort 
nicht so hinterwäldlerisch vorgestellt hätte. Das Thema lautet: 
Was sagt uns Jungen die Geschichte? Sie hätten 
ihnen, d. h. der älteren Generation, von der sie unterrichtet werden, 
vieles zu sagen. Wir haben einen historischen Lehrgang zurück 
gelegt wie kaum ein Geschlecht vor uns. Deutschland hat den Krieg 
verloren und ist zur Republik geworden. Die russische Revolution 
hat zum ersten Mal dem Proletariat zur Herrschaft verholfen. 
Schwere Wirtschaftskämpfe erschüttern die Erde, und große Völker, 
die bisher geschlummert haben, erwachen zum historischen Leben. 
Sagt den jungen Leuten diese Geschichte etwas? Nichts sagt sie 
ihnen. Sie reden, wie sie vor 1914 hätten reden können, ihre 
Sprache ist durchaus die alte geblieben. Die soziale Frage scheint 
sie nicht zu betreffen, die Tatsache, daß Deutschland eine Republik 
ist, regt sie nicht weiter auf.- Wären nicht einige Phrasen über 
den Frieden und Europa, man merkte überhaupt nicht, in welcher 
Zeit wir jetzt leben. Schlimm für die Lehrer und schlimm für die 
Jugend. 
Wie die Allen fungen... 
Zum dritten deutschen Schülerrede Wettbewerb. 
ZLL- Berlin, 11. August. 
Im großen Saal der Hochschule für Politik. Sechs 
Schüler, die nach dem auch bei Schönheitskonkurrenzen 
üblichen Sichtungsverfahren in den Provinzen und zuletzt in Berlin 
als die besten jugendlichen Sprecher ausgesiebt worden sind, treten 
Zum. Redewettkampf an. Dem hochoffiziellen-Akt wohnen bei: das 
Preisrichterkollegium, das sich aus Lehrern, Dozenten der Hoch 
schule, Vertretern der Ministerien usw. zusammensetzt; der amerika 
nische Botschafter; zahlreiche Photographen. Diese schrauben ihre 
Kameras auf die hohen Stative und nehmen sämtliche Prominente 
ins Kreuzfeuer. Man wird dem Ergebnis bald in den Illustrierten 
begegnen. 
Herr Sackett weist in ein paar Vegrüßungsworten auf das 
internationale Redeturnier in Washington hin, wo sich neben den 
Abgesandten der anderen Staaten auch der heutige Sieger Zu be 
währen haben wird. Dort wird sich dann zeigen, wer der Weltmeister 
ist, der Redechampion des Universums. Den Sinn, den die Ver 
anstaltung etwa für Deutschland haben kann, sucht Herr Grabow- 
ski zu deuten. Er erblickt in dem SHülerwettbewerb eine Vor 
bereitung aufs Parlament, das unter anderem auch daran leide, 
Mue Tonfilme. 
Einiges grundsätzliche Bemerkungen. 
Berlin, Mitte August, s 
„Unter den Dächern von Paris." 
Der Mozart-Saal ist in ein Tonfilmtheater umgewandelt wor 
den, dessen Wände über und über mit glutrotem Stoff bespannt 
sind. Der Stoff selber hat wohl akustische Gründe. Me neue 
Bühne, die unter der Leitung von Hanns Brodmtz steht, wurde 
gestern mit dem Tonfilm: „Tons !es toits äe Uaris" 
von Rene Clair eröffnet. Zum Glück hat man -die französische 
Fassung des nach dem Tobis-Verfahren hergestellten Films beibe 
halten und ihm nur — vielleicht in der Absicht, ihn bei uns ein- 
Zubürgern — eine kurze deutsche „Tonfilm-Conference" vorange 
schickt, die Joachim Ringelnatz versieht. Ich mag Ringelnatz 
gern, aber seine Conference wäre'überflüssig gewesen. Der Film, 
der drei Monate hindurch mit unbestrittenem Erfolg in Paris ge-! 
laufen ist, spricht für sich selber. 
ch 
Rene Elair hat auch das Manuskript geschrieben. Die Hand 
lung entwächst einem Argot-Schlager und schildert jenes Pariser 
Volksleben, das ans „Milieu" grenzt. Ihre Hauptpersonen sind 
ein Straßensänger, dem Albert Prejean nahezu die' Anmut 
Chevaliers leiht, ein Mädchen, das in der Darstellung von Pola^ 
Jllery ein nettes Mittelding zwischen Gosse und Midinette ist,^ 
und ein schicker Zuhälter mit schwarzem Bärtchen (Gaston Mo- 
d o t). Das gruppiert sich Zwar zur geschlossenen Komposition, wächst 
aber kaum je scharf profiliert aus der Umwelt der Straßen, der 
Ual3 nm8ette8 und der Dachkammern heraus. Nicht allein die 
Menschen lieben und hassen sich, es ist, als liebe und hasse die 
Stadt mit ihnen. Sie stecken in ihr wie in einem Anzug, den sie 
nie ablegen. Ein kleiner Schreiber, eine dicke Bourgeoismadame, 
Flies und ein Dieb — in allen diesen Nebenfiguren lebt Paris. I 
Sein Alltag ist mehr als nur Hintergrund oder Füllwerk, er ist 
die eigentliche Triebkraft der Fabel. 
O 
Daß aus ihm das Geschehen aufsteigt und in ihn wieder ein- 
mündet, ist ein entscheidendes Merkmal des Films. Rene Clair 
gehört zur französischen Avantgarde. Man sah hier von ihm im 
Frühjahr einen Groteskfilm: „öntr' acte", der Fragmente des ge- § 
wohnten Daseins nach den strengen Gesetzen der Traumlogik ge 
staltete. In diesem neuen Film läßt er das herkömmliche Leben in 
größerem Umfang bestehen, und schafft einen Ausbau von Ereig 
nissen, der sich auch dem normalen Bewußtsein erschließt. Darum 
löst er doch allenthalben die Oberfläche auf, schweift von ihr ab 
und durchkreuzt sie mit eigenwilligen Mustern. Die Handlung spielt 
nicht in Paris, sondern Paris spielt diese Handlung. Statt daß sie 
das Zentrum wäre, ist sie nur die Ausstrahlung eines anderen, 
schwer faßlichen Zentrums. Wie zufällig ergibt sie sich am dem 
Anfängen des Jahrhu^ stammen, sind trotz allem, was die 
Geschichte sagt, unverändert erhalten geblieben. Mit ihnen im 
Tournister ist die Kriegsjugend damals ins Feld gezogen. Die 
neue Jugend wird es auch tun; obwohl in den rhetorischen Er 
güssen eine Art von mittelständischem Friedensoptimismus mit- 
schwingt. Aber der wiegt ziemlich leicht und wird außerdem nicht 
von allen geteilt. Jedenfalls entpuppt sich einer der Redner, der 
zum Glück an die letzte Stelle rückt, als ein wütender Nationa 
list. Er wirkt wie die verkleinerte Ausgabe eines völkischen Dema 
gogen. 
Nur einer von den Sechsen scheint etwas erfahren zu haben. 
Er pfeift auf die Kriegsgeschichte, auf die politische Geschichte und 
die gelehrte Historie, er möchte eine Geschichte, die uns von den 
Menschen und vom Eingreifen Gottes in die irdischen Schicksale 
erzählt. Das hat er wirklich gesagt, und es ist echt herausgekom 
men. Ein reizender Junge aus Schleswig, der Pfarrer werden 
will. Man hat ihm den vorletzten Platz zuerkannt. 
Ob die bei diesem Redewettbswerb betroffene Auslese ein typi 
sches Bild der heutigen Jugend ergibt? Ich glaube es nicht. Ich 
meine, daß viele Jugendliche doch weniger zeitblind sind und 
selbständiger denken. Typisch ist die Veranstaltung schon eher für 
die Lehrerschaft und andere maßgebende Kreise der älteren Gene 
ration. Sie beweist vielleicht, daß die Sprechkultur sich ein wenig 
hebt und bezeugt unzweifelhaft, daß die allgemeine Kultur bedenk 
lich erstarrt ist. Es wäre an der Zeit, daß sie sich auflockerte und 
das deutsche Bewußtsein der Situation nachkäme, in der wir gegen 
wärtig stehen.
	        
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