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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Unter der HöerMche. 
Berlin, im Juli. 
Ein ausländischer Besucher Berlins, der weit in der Welt herum, 
gekommen ist, sagte mir jüngst, daß man hier an der Oberfläche die 
Not kaum bemerke. Er war darüber um so erstaunter, als er von 
ihrem Vorhandensein wußte. Das gutgekleidete Straßenpublikum, ! 
die Wochenendmode, der Betrieb in den Lokalen — alle diese Zeichen 
eines scheinbar gehobenen Lebensstandards verwirrten ihn, da sie! 
nach seiner Meinung das Faktum des Elends zwar nicht Lügen 
straften, aber ihm doch rätselhaft widersprachen. Ich machte ihn 
unter anderem auf die Bettler aufmerksam, die jetzt in immer 
größerer Zahl gerade den Westen bevölkern. Seine Antwort 
lautete, daß es in London etwa viel mehr Bettler gäbe als hier 
in Berlin. „Vielleicht," so reflektierte er, „ist bei euch die Not 
nicht einmal schlimmer als anderswo. Nur seid ihr von ihr 
auch seelisch völlig besessen." 
Solche Urteile werden von Fremden öfters geäußert. Um sie 
richtigzustellen, genügte beinahe schon der Hinweis auf die täg 
liche Lokalrubrik. Ich greife aufs Geratewohl die Meldung eines 
hiesigen Blattes heraus, nach der in der Zeit vom Sonntag bis 
Zum Montag mittag nicht weniger als sieben Personen Selbst 
mord verübt haben: 
Ein blutjunges Liebespaar, dessen Vereinigung durch seine! 
Mittellosigkeit verhindert wurde; 
ein Polizeibeamter wegen Familienstreitigkeiten und Ueber- 
schuldung; 
ein zugereister Rentmeister; 
eine ältere Frau, die angesichts ihrer wirtschaftlichen Zer 
rüttung die Nerven verlor; 
noch eine alte Frau, die nach dem Tod ihres Mannes vergeb 
lich Arbeit suchte; 
ein Stallschweizer, der arbeits- und wohnungslos war; 
Dem ist nichts weiter hinzuzufügen; es sei denn die Be 
trachtung, daß die Verschiedenheit der gewählten Todesarten mit 
der Gleichförmigkeit des Selbstmordmotivs merkwürdig kontrastiert. 
Aber auch innerhalb seines eigenen Beobachtungsfeldes wäre 
jener Ausländer leicht zu widerlegen. Ich will gar nicht von den 
vielen Merkmalen der Not reden, die mindestens so sichtbar sind 
wie der spärlich aufsitzende Glanz — also zum Beispiel von den 
Schwierigkeiten der Vergnügungsindustrie oder von der ungeheuren 
Menge leerstehender Großwohnungen —, sondern lieber einige 
unauffälligere Symptome des wirklichen Zustands verzeichnen. Zu 
ihnen gehört -die Aufgeregtheit im Alltag. Mag selbst 
die gute Kleidung in gewissen Stadtteilen vorherrschen, das Ge 
baren der Menschen stimmt nicht recht mit ihr überein. Nicht so, 
als ob sie der Höflichkeit ermangelten, aber sie sind von einer 
Nervosität, die bei dem geringsten Anlaß ausbricht. Wer jetzt an 
den heißen Sommerabenden über den Kurfürstendamm promeniert, 
spürt deutlich, daß diese Menschen von Unruhe verzehrt sind und 
rasch aus der Haut fahren könnten. Sie stoßen sich, wenn sie 
aneinander Vorbeigehen, sie sprechen etwas lauter, als es vielleicht 
üblich ist, und erwecken überhaupt den Eindruck von Reibungs 
flächen, die sich im nächsten Augenblick entzünden. Oft erfolgt auch 
wirklich eine Explosion. Ein Auto hat eine Straßenbahn gestreift, 
oder an irgendeiner Ecke bildet sich ein Menschenknäuel, aus dessen 
Mitte Schupohelme herausleuchten. Ich weiß, daß ich mich ganz 
ungenau ausdrücke, aber es kommt mir nur darauf an, die gereizte 
Stimmung anzudeuten, die hier fast körperlich fühlbar ist. Man 
müßte, um sie im einzelnen darzustellen, Lausende winzige Vorfälle 
schildern und dann aus ihnen die Summe Ziehen. Zu notieren 
wäre: die rücksichtslose Raserei der Autos nach dem Aufblenden 
des grünen Signals; Strettszenen in Restaurants; stumme kurze 
Blickschlachten zwischen Passanten, die sich nicht kennen und doch 
abtaxieren wie Waren; Gesprächsfetzen, Schaffnerauskünste und 
manche Gebärden. Das aus diesen Zügen zusammengesetzte Mosaik 
verriete, wie geplagt und geschunden heute die Menschen aller 
Schichten bei uns sind. 
Man sollte meinen, daß ihnen Sport und Wochenende eine 
Erneuerung der Kräfte brächten. Aller ich habe schon wiederholt 
die Erfahrung gemacht, daß eher das Gegenteil richtig ist. Um es 
kraß auszudrücken: die Art und Weise, in der sich die Massen 
gegenwärtig ins Wochenende stürzen, ist selber ein Kennzeichen der 
durch die allgemeine Not erzeugten Hysterie. Sie geben sich der 
Natur nicht hin, sondern überrennen sie gleichsam; tragen ihren 
Krampf in den Sport hinein, statt sich von ihm lösen zu lassen; 
vergötzen die Nacktheit, die doch nur der Gesundung dienen sollte, 
und erheben die braune Hautfarbe zum Idol. Wäre es anders, man 
müßte den Menschen auch im gewöhnlichen Großstadtlellen anmer 
ken, daß sie sich körperlich ertüchtigt und draußen wirklich erholt 
haben. Dem besseren Aussehen, daß sie durch die bewußte Körper 
kultur erlangen, entspricht indessen keineswegs eine größere Ge 
messenheit, eine ruhigere Haltung. Wenn mich nicht alles täuscht, 
hat sich sogar ihre Empfindlichkeit nicht unerheblich gesteigert. Im 
mer wieder kann man an schwülen Tagen beobachten, daß gerade 
junge, ersichtlich sportgeübte Menschen sich ihrer Jacke entledigen, 
um die Beschwerden der Hitze zu verringern, während ältere Her 
ren im Vollbesitz ihrer Kleidung dahinwandeln, ohne unter der 
kleinen Schwitzkur besonders zu leiden. Das Wochenende scheint 
also einstweilen die Widerstandskraft nicht eben zu erhöhen. Es hat 
gewiß gleich dem Sport die Funktion, den Folgen der Not ent- 
gegenzuwirken, wird aber noch in Formen genossen, die selber ein 
Produkt der Not sind. 
Ich möchte damit nur gesagt haben, daß diese Not trotz der 
Luxuskarosserien und der Glanzperspektiven, die sich den Fremden 
so schnell eröffnen, durchaus nicht unsichtbar ist. Ihre Signale ragen 
! vielmehr wie die Masten gesunkener Schiffe über die spiegelglatte 
l Oberfläche hinaus. S. Kracauer. 
77.^7./!^^
	        
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