Skip to main content

Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

nicht zu lösen vermag. Dieses Zugleich von Jugend und Alter, 
von blühenden Wangen und verblichenen Strähnen beunruhigt 
mich, es ist so etwas wie ein hölzernes Eisen, ein Phänomen, 
das nicht die geringste Wahrscheinlichkeit für sich hat und sich 
selbst widerspricht. Dennoch ist es wirklich; so wirklich wie die 
Stadt Paris. Auch Paris trägt die Zeichen des Alters Mf 
der Stirn. Aus den Poren seiner Häuser quellen Erinnerungen 
hervor, und immer wieder wäscht der Regen die Säulen der 
Madeleine, sodaß sie weiß sind wie Schnee. Das Weiß des 
Alters ist die Farbe der Stadt. Unter der Hülle aber lebt sie 
geschützt und ist frisch wie am ersten Tag. Man muß sie jetzt 
im Frühjahr gesehen haben, wie sie aus dem Morgendunst 
aufsteigt. Einem Schiff gleich schwimmt sie langsam davon und 
treibt in den blauen Himmel hinein, der sie lautlos umplätschert. 
Zurück. 
Heimfahrt. Gleich hinter Paris unterhalten sich zwel 
deutsche Herren über Patentschwirrigkeiten, der Ernst fängt 
schon wieder an. In ihre Geschäfte hinein blicht eine ältere 
geschmückte Dame aus dem Magdeburgischen, sie hat uns 
unverzüglich mitgeteilt, daß sie von Magdeburg ist. In Paris 
ist sie bei der Bakker gewesen, worunter sie die Josefine Baker 
versteht. Es kommt heraus, daß auch die Herren über den 
Patenten nicht das Vergnügen vernachlässigt haben. Zwei 
patente Herren, die Dame hat eine Tochter, ich lese einen 
Kriminalroman. Bei der Fahrt über den Rhein zeigt mir der 
Speisewagenkellner zahlreiche Kohlenschiffe, die sich untätig 
ausruhen: „Die Stinnesflotte — der ganze Betrieb liegt 
lahm." Ich spüre, daß wir in Deutschland sind, an der Front, 
und daß ich hier leben muß. In Hamm weckt mich ein dort 
zufällig eingestiegener Bekannter aus dem Schlaf. Wir geraten^ 
als hätten wir seit Monaten ununterbrochen miteinander 
geredet, sofort in eines jener Gespräche, die nicht anfangcn 
und nicht endigen können. Das deutsch-österreichische Ab, 
kommen, die Notverordnung, die Industriellen in Moskau —< 
von der politischen Aktualität ausschwärmend, verlieren wip 
uns in den sozialen Problemen, schon ist Hannover vorüber, 
aber die Not bleibt bei uns, und je weiter die Zeit fortschreitet, 
desto dringlicher wird die Frage nach Fundamenten unserer 
Gesellschaft gestellt. In solchen Gesprächen ist heute Deutsch 
land. Heerstraße — Charlottenburg — da ist unversebens 
Berlin zurückgekehrt. Langsam fahren wir in die nächtliche 
Stadt hinein, die mir drohender, zerrissener, gewaltiger, ver 
schlossener und vielversprechender erscheint als je zuvor. Kurz 
nach Mitternacht Bahnhof Zoo. Die Lichterserien um die 
Gedächtniskirche funkeln irrsinnig wie Aufbruchsignale. 
S. Krakauer. - 
Berliner Meöenemander. 
Berlin, im April. 
Die FremÄensais 6 n ist seit den Osterfeiertagen eröffnet. 
Der internationale Chirurgenkongreß hat eine Menge ausländi 
scher Gäste nach Berlin geführt, und schon sind als Vorboten 
kommender Ereignisse die ersten amerikanischen Industriellen, Prä 
sidenten und Vizepräsidenten emgetroffen. Ueberhaupt rechnet man 
mit einem starken InrporL von Millionären aus N. S. A. Wie 
es heißt, sollen die internationalen Reisebüros bereits große 
Buchungen für die deutschen Hotels vsrgemerkt haben. 
SÄ 
Das Berliner Arbeitsamt hat F o r t K i l d u n g s k u rse f ü r 
Arbeitslose eingeführt. So finden Nähkurse für junge Mäd 
chen und Frauen statt, stellungslose Kaufleute erhalten die Ge 
legenheit, sich im Maschinenschreiben, in Deutsch und im Rechnen 
-Zu vervollkommnen. Friseuren wird die Möglichkeit geboten, mit 
der Mode zu gehen, und. ausrangierte. Musiker können unter 
einem vom Arbeitsamt engagierten Kapellmeister weiter üben und 
proben. Eine produktive Hilfsleistung, die unter den gegen 
wärtigen Umständen viel für sich hat. Sie gibt nicht nur den Frei 
gesetzten einen gewissen Halt, sondern gestattet auch die besser 
Unterbringung mancher Kräfte. Man hofft in den Besitz der 
nötigen Mittel Zu kommen, um diese Fortbildungskurse noch mehr 
auszubauen. 
. Das seit langem durch einen riesigen Plakatzaun schamhaft ver 
deckte Gelände auf dem Potsdamer Platz soll endlich bebaut werden. 
Natürlich mit einem H o ch h a u s, das sich stolz Kolumbus-Haus 
nennt. Wir hahen^ auch bereits ein Europa-Haus am Anhalter - 
Bahnhof, die Hochhäuser tun es nicht unter Kontinenten und welt 
berühmten Personen. Der Kolumbus-Bau wird von Erich Mendel 
ssohn errichtet und erhält als besondere Spezialität ein frei aus 
ladendes Flugdach. Bald kommt man nicht mehr von unten in die 
Häuser herein, sondern von oben. In einer hiesigen Zeitung war 
der Entwurf abgebildet: eine Art von Bürösestung aus lauter 
Horizontalen, und dazwischen ist Glas, 
»ic 
Da wir bei der Monummtalkunst sind : die Umgestaltung der 
Schi Mischen Neuen Wache zum Ehrenmal iü in vollem Gang. 
Man glaubte seinerzeit, daß durch die Verwirklichung dieses Pro 
jekts der Plan eines Reichsehrenmals endgültig von der Bildfläche 
verschwände. Wie wir damals schrieben, hätte man umso leichter auf 
ihn verzichten können, „als die Schinkelsche Wache nicht nur ein 
lokales Architekturerzeugnis ist, sondern ein großes Werk deutscher 
Baukunst. Wird es den Gefallenen des Weltkriegs gswei'ht, so ehrt 
in ihm das ganze Reich seine Toren." Nun ist es doch anders 
gekommen. Die Reichsregierung hat die Errichtung eines Reichs 
ehrenmals in Berka beschlossen, und außerdem ein der Befreiung 
des Rheinlandes gewidmetes Ehrenmal am Rhein in Aussicht 
genommen. Wir werben also mit Ehrenmälern nicht leicht in Ver ¬ 
legenheit geraten. Vielleicht gelingt es Heer MehM,. außer W 
Erinnerung an den Krieg auch den Wderstand gegen -ihn wach« 
zuWten.. 
Glücksspiel e sind in Berlin immer noch sehr im Schwang. 
In den Seitenstraßen des Kurfür stendamms wird-„Meine Tante, 
deine'Tante" zu Umsätzen gespielt, deren Hohe allenfalls durch die 
Wirtschaftskrise eine gewisse Beeinträchtigung erfährt. Ausschweifen 
der soll es merkwürdigerm^ Norden der Stadt zu- 
gehew Dort besteht die Kundschaft aus Bäcker- und Schlächter 
Meistern, die sich solche Sensationen unschwer leisten können, und 
in der Nähe des Zentralvisbhofs verunstalten die Viehhändler sogar 
schon am Vormittag kleine Partien. Fliehen schon die Befferfituier- 
ten in abgelegene Glücksoasen, so kann man es dem abhängigen 
kleinen Mittelstand erst recht nicht verargen, daß er dem grauen 
Alltag entrinnen möchte. Die jetzt geschlossene Cafäba^ 
mit ihren bunten Panoramen, Zehnstühlen, lauschigen Kojen und 
erotischen Phantasmagorien war nur einer Insel der Seligen 
zu vergleichen, auf der es sich zahllose Angestellten^ 
für Abend wohl sein ließen. Sie wird Nachfolge finden, und gewiß 
ist, daß die Zunahme der Mechanisierung aller LebensfrrnkLionen 
automatisch zu einer Vermehrung der farbigen Prospekte in den 
Großstadtlokalen führen muß. Die ausgestoßenen Träume werden 
im Glücksspiel narkotisiert und wiegen sich in den Cafehauspalmen. 
Wir haben vor einiger Zeit an dieser Stelle den düsteren 
Ernst des neuen Berliner Nundfunk^uses zu beschreiben ver 
sucht. Ein Bon mot, das jetzt hier umläuft, hat ibn mit Blitz 
licht und Büchse getroffen. Die „S i n g - S ingakadew i e" 
— so Wirts das Haus an der Masurenallee m den beteiligten 
Kreisen genannt.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.