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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Soweit ich beurteilen kann, 
Rückständig 
? ei L oder dre Verstocktheit der Branche. Während jede bessere 
Jndustriefirma heute weiß, daß Qualitätswaren den Gewinn er- 
bähen, und darum Fachmänner engagiert, die ihr diese Qualität be 
schaffen, verschmäht die Branche nach Möglichkeit jede fachmännische 
Beihilfe und setzt ihren Ehrgeiz darein, selber den Geschmacks 
richter Zu spielen. Um Zunächst.auf den Filmverleih einZu 
gehen, so maßt er sich Funktionen an, zu deren Erfüllung ihm 
notorisch die Voraussetzungen 'fehlen. Er hat nicht nur Asta 
Nielsen ignoriert und hält sich noch immer davor Zurück, ihre 
Arbeit finanziell zu fördern, er behauptet nach, sich in den 
Puölikumsbedürfmffen auszukennen, und beeinflußt auf Grund 
dieser vermeintlichen Erkenntnisse die gesamte Filmproduktwn. 
Wider solche dilettantischen Ambitionen wäre nicht das geringste 
Einzuwsnden, wenn sis große Erfolge zeitigten. Aber die Er 
fahrung lehrt, daß sie, von jenen Filmfabriken abgesehen, die wie: 
G r u n d f L tz l L ch e B e m e r k u n g § n. 
Berlin, im ApE 
Deutlich erinnere ich mich einer kleinen Szene aus einem Film 
von Asta N i e l s e n, der vor vielen Jahren gelaufen ist, damals, 
als die Kinos noch unscheinbarer kvaren und die Filme weit besser. 
Ich glaube, es ist der Film: „Absturz* gewes^ Vielleicht deckt sich 
mein Ermnernngsbild nicht ganz mit der Wirklichkeit, aber jeden 
falls sehe ich bis Nielsen mit unverminderter Schärfe, wie sie, eine 
Dirne, in ihrem Kämmerchen vor einem Spiegelscherben steht und 
sich betrachtet. Eben ist sie von ihrem jüngeren Geliebten 
verlassen worden, und nun erkennt sie, daß ihr Leben 
fortan leer verstreichen muß. Sie wird vor dem Spiegel und den 
Augen des Publikums plötzlich alt, noch viel älter, als sie im Film 
tatsächlich sein mag. Wodurch dieser unvermittelte, sichtbare Ueber- 
gang zustande gekommen ist: ob durch die veränderte Stellung der 
Mundwinkel oder durch eine Summe unmerklicher physiognomischer 
Wandlungen, weiß ich bis heute nicht. Genug, er ist ein Wunder 
der Darstellungskunst gewesen, das mir frisch inr Gedächtnis hastet 
und mich manchmal neu Überfälle 
DaS wird jetzt acht Fahre her sein. Inzwischen ist Asta Nielsen 
immer seltener im Film erschienen und seit drei Jahren üLer - 
Haupt nicht mehr aufgetreten. Hat sie aus freien 
Stücken dem Film abgesagt? Sie denkt nicht daran. Was also ist ge 
schehen? 
Man hätte keinen Anlaß, das Schicksal dieser außerordentlichen 
Künstlerin aus seiner, augenblicklichen Verborgenheit hcrvorZuZiehen, 
wenn es nur ein Sonderfall wäre. Aber es ist ein Schicksal, dessen 
Kurve nicht so sehr durch individuelle Eigentümlichkeiten als durch 
allgemeine Verhältnisse bestimmt wird. Eine bedeu 
tende EinzeleristenZ stößt mit der Filmbranche zusammen und wird 
von ihr ausgeschieden. (Auch Paul Wegeuer ist es nicht viel anders 
ergangen.) Da das Filmwesen eine öffentliche Angelegenheit ist, 
hat die Oeffentlichkeit ein Recht darauf, zu erfahren, wie Kämpfe 
mit solchem Abschluß möglich sind, , 
Die Tatsachen sind im einzelnen verwickelt, im großen gesehen ein 
fach. Nach jenem Film: „Absturz" verhänate der Filmverleih über 
Asta Nielsen eine Art von Boykott, der, wenn ick reckt unterrich 
tet bin, eigentlich nicht der Künstlerin selber galt, sondern der In 
dustrie, die erKärt hatte, daß die hohen Leihgebühren der Filme auf 
die hohen SLorgagen Zuxückzusthrkn seien. Es bedürfte einer aus 
führlichen Schilderung, um darzulegen, daß Asta Nielsen nur durch 
cm Mißverständnis in den Verdacht ungebührlicher Geldforderungen 
geriet, die, nebenbei bemerkt, immer noch nicht den Vergleich mit 
den heutigen Sürrbezügen aushielten. So lohnend diese Schilderung 
wäre, die bei manchen Details besonders liebevoll zu verweilen 
hätte — ich muß auf sie im Interesse der grundsätzlichen Anmer 
kungen verzichten —, der Boyrott dauerte ein paar Jahre an, nach 
deren Ablauf wieder verschiedene Filme mit Asta Nielsen inszeniert 
wurden: ,MrneniraaM „KtMstMsünder", „Das gefährliche 
Alter" und „Gehetzte Frauen". Die Zwei letzten Filme waren nun- 
derwerügL Machwerke und brachten nichts ein; woraus die Branche 
wohl den falschen Schluß zog, daß mit der Künstlerin keine Ge 
schäfte zu machen seien. (Wenn man überall nach diesem Rezept 
vorginge, müßten noch manche Darsteller nur darum von der Lein 
wand verschwinden, weil sie einmal das Unglück hatten, im Mittel 
punkt schlechter Filme Zu stehen, die zum Glück ein Mißerfolg 
waren.) Fest steht jedenfalls, daß sich in der Folgezeit der Verleih 
und die Herstellerfirmen — diese aus.bestimmten, gleich zu erörtern 
den Gründen — sprsd gegenüber Frau Nielsen verhielten. Die spär 
lichen Angebote, mit denen man doch noch an siecheranftat, betrafen 
Stücke, die'sie nicht gutheißen konnte, und unwichtige Episoden 
rollen, die ihrer nicht würdig waren. 
Ich Ltzabfichtiae . nicht, mich ins Dickicht der kleineren und 
kleinsten Tatsachen zu verirren. Worum es hier geht, ist einzig 
und allein dies: daß die Filmbranche es fertig gebracht hat, eins 
Darstellerin vom Range Asta Nielsens Leiseite Zu schaffen. Das ist 
nicht ein trauriges EinzelereigniZ, das ist ein Zeichen des all 
gemein-» Niedergangs. 
* 
Jch will mit dem Hinweis auf das Dilemma, in dem sich Hocke 
befindet, keineswegs das große Verdienst schmälern, das sich Döblin 
mit seinem Buch erworben hat. Das Verdienst, von einem ent 
scheidenden Punkt aus in eine Debatte eingegriffen Zu haben, die 
bei uns seit langem unter der Oberfläche schwelt. Es geht in ihr 
um die Ortsbestimmung der deutschen Jntelttgenzschicht. 
Wohin gehört sie, wo ist sie zu Hause oder nicht zu Haufe'? Döblin 
hat zum mindesten ihre fragwürdige Zwischen^ klar fixiert. 
Das ist wichtig genug; denn weder wissen zahllose Intellektuelle 
um ihre soziale Situation Bescheid, noch gelingt es ihnen, sich 
der Verführungen M von verschiedenen Seiten 
her . drohen. Piele verschreib sich blind „der Reaktion, manch- 
bringen bei 'ihrem- UebetgMrg M Arbeiterbewegung das schädliche 
Opfer stichhaltiger Erkenntnisse, und dann sind da noch die Hockes, 
die überhaupt nicht ahnen, WM eigentlich los ist. Fast alle, die sich 
hier-oder dort einreihen, sind Flüchtlinge und müssen das schlechte 
Gewissen in sich ersticken. Indem Döblin sie nicht nur auf den ihnen 
zukommenden Platz stellen, sondern ihnen auch das gute Gewissen 
-zurückgeben will, unternimmt er freilich zu viel; wie die Schwierig 
keiten zeigen, mdie er Hocke verwickelt. Ja, es ist sogar zu be 
fürchten, daß er, der eigenen Absicht zuwider, durch die Art seiner 
. positiven Zielsetzung der von ihm aufgerufenen Intelligenz eine 
Ideologie liefert, die sie dazu befähigt, im Namen des Sozialismus. 
sich nicht um den Sozialismus zu kümmern; daß er unfreiwillig 
mehr die RomaM fördert und nicht so sehr 
dir Selbstbesinnung aktiviert als die Besirmlichkeit weckt. Wie die 
Zage heute ist, scheinen mir s^ wenigstens 
möglich. Um sie von vornherein aus dem Weg zu räumen, muß als 
der wesentliche Gewinn des Döblinschen Buches festgehalten 
werden: daß es endlich unserer Intelligenz den Ort zwischen zwei 
großen Fronten sichtbar macht, an dem sie tatsächlich sich auMlt. 
Was soll sie tun? Hierüber vielleicht Klarheit zu schaffen, bleibt dem 
Dauergespräch Vorbehalten, das nun zu beginnen und an Döblin 
anAuknüpftzn haben wird. 
von allen, guten Geistern verW OefftznLttchke.it ge ¬ 
worden - ist. Kurzum, ich kann mit dem besten Willen.nicht er 
kennen, wie durch die Maßnahmen, die- Döblin vorschlägt, dem 
Sozialismus auf die Beine zu helfen ist. So sehr ich begreife, 
daß er dem Studenten ab rät, sich "einfach und unnachdenklich mn 
den blankradikalem Intellektuellen zu vermischen (die er an einer 
Stelle nicht unzutreffend als „rachsüchtige Bürger" bezeichnet), so 
wenig verstehe ich, daß er den umgeschaffenen Hocke ganz aus der 
Oeffentlichkeit herauslotfeu und vor den fruchtbaren Schwierig 
keiten bewahren möchte, die das problematische Verhältnis zwischen, 
ihm und den Ärbeitercheoretikern Zweifell sich brächte. Hier 
Zieht, sich Döblin entschieden Zu weit Zurück, hier verlangt er den 
Abbruch der realen Dialektik, in- die doch, gerade von ihm. aus 
gesehen, die Intellektuellen eintreten müßten, mn sich an den: ihnen 
zubestimmten Platz aktiv Zu betät^ „neben 
derArbeiterschaft" sein; aber das undialektische DaneLeu 
ist aller Vowussicht nach gar nicht zu realisieren. Jedenfalls besteht 
die Gefahr, daß d^ Hocke viel mehr auf He, 
Vervollkommn^ seiner Privatperson als auf die Verwirklichung 
allgemeiner menschlicher Veränderungen zu achten beginnt. Es 
fehlen ihm ja auch die Handhaben dazm Und während er und 
seine Freunde die Oeffentlichkeit abbauen -- auch diese Gefahr ist 
keineswegs zu unterschätzen—, -dauert sitz ununterbrochen fort rmd 
wird- um so ungehemmter Finsteres ausbrüten. 
Also noch einmal: was soll, was kann Hocke unter den Hm 
gestellteu Bedingungen für den Sozialismus tun? Ich weiß es. 
nicht, klebrig bleibt ihm: den „Sozialismus wieder als ,Utopie 
herzustellen, als reine Kraft, Element in uns...", wie Döblin 
sagt, um dann gleich forizufahren: „feine Verwirklichung oder die 
Annäherung an ihn mit neuen Mitteln zu versuchen." Das genau 
wäre allerdings die vertrackte Aufgabe, die Hocke zu bewältigen 
hätte, aber nicht lösen kann.
	        
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