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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

erhebend wären, wage ich nicht zu behaupten. Im Gegenteil, die 
Komposition eines Jüngsten Gerichts weckt Sehnsucht nach dem 
Paradies kahler Wände, und ein zu kurz geratener Mann im Bade 
mantel erregt nur die Begierde, ihn ein für allemal abzuwaschen. 
Hohlplastiken lassen sich leider schwerer beseitigen. Vielleicht aus 
dem Bedürfnis heraus, sich den schlimmen Zeitläuften anzupaffen, 
erscheinen die meisten gemalten Figuren gleich in zerstückeltem Zu 
stand. Entweder werden sie durch ein Sieb von Quadraten ge 
quetscht, oder sie verwickeln sich zu einem ornamentalen Ereignis, 
das undurchsichtig ist wie eine Bilanz. Manchmal gebärden sie sich 
wenigstens normal, aber dann kommt hinterher wieder eine Webe 
arbeit — vor diesem Webestück hörte ich eine Schulklaffe herzlich 
lachen. Es stellt eine dicke Mama mit einem Bündel von Kind 
dar, und die Gesichter der beiden sind wie aus Streichhölzern 
zusammengesetzt. Das Lachen wiederholte sich und klang mir noch 
nach, als ich schon längst zwischen Betonkonstruktionen verweilte, 
die sich schlechterdings nicht anschmieren lassen. 
Eigenheime. 
Der Liliputbahn im Freigelände entsprechen die Eigenheime — 
winzige Dinger, in die man aber bequem hineinschlüpfen kann. 
Sie sitzen wie angegossen und enthalten auch für Minderbemittelte 
den statistisch notwendigen Raum zum Atmen und Leben. Eine 
Puppenküche ist darin, ein Schlafzimmerchen zum Ablegen der 
müden Glieder, eine Wohnstube und eine Veranda, die für eine 
große Kaffeekanne mit mehreren Tassen reicht. Daß die verschie 
denen Räumlichkeiten sich nicht gegenseitig die Quadratzentimeter 
streitig machen, ist entschieden ein Werk'der Zauberei. Ich weiß 
überhaupt nicht, woher es rührt, aber die Häuschen sehen alle so 
aus wie Prospekte ihrer selbst. Es ist, als sei um sie herum immer 
schönes Wetter, und die Käufer erhielten die Sonne gewissermaßen 
gratis dazu. Und leuchtet sie draußen nicht, so scheint sie zweifellos 
desto strahlender in den Herzen, und die Hausfrau waltet wie ein 
Eigenheimchen am Herd. Denn entstünde je ein Familienstreit in 
den Stübchen: die Wände bögen sich krachend auseinander und dlH 
Paar Kubikmeter verflüchtigten sich in den leeren Raum. j 
Kupfer. 
Das Kupferhaus glänzt schon von weitem. Es ist nicht unge« 
fährlich, sich ihm bei starkem Sonnenlicht zu nähern, da sein« 
Fassaden schrecklich funkeln und blitzen. Ein völlig mechanisches 
Kunstgeschöpf, das in einer Autoladung am- Bauplatz eintrifft und 
dort binnen 24 Stunden ausgestellt werden kann. Die Wände sind 
abwaschbar und innen mit Stahl verkleidet. Der technischen Hen 
richtung Widerstreiten freilich die hausbackenen Formen, die der 
früheren Villenbauweise entlehnt sind. Wie auf gewöhnlichen Backs, 
steinmauern sitzt oben ein Satteldach, und in den Zimmern glaubt 
man sich zwischen Lincrustatapeten zu befinden. Wer in Kupfer 
wohnt, will aber lieber an einen blanken Kessel erinnert werden 
als an Vorortshäuser mit guten Stuben. Die vorurteilslose Archiv 
tektur, nach der eine solche metallische Unterkunft verlangt, wär« 
unbedingt durch ein mit Zinkblech belegtes Gärtchen zu ergänzen, 
in dem Bleibäume blühen müßten, die niemals verwelken. 
Stahl. 
Die Not, die Eisen Lricht, scheint Stahl zu gckären. Wohin 
man nur blickt, überall stehen Stahlstühle bereit, und der Eindruck 
vertieft sich, daß das Holzzeitalter endgültig vorbei ist. Ich sehne 
mich angesichts der ausgezehrten Stuhlgerippe nach ihm zurück. 
Mögen sie immerhin den Gesetzen der Statik genügen: ihre 
Schwingungen sind mir verdächtig, und ihre Schlankheit paßt nicht 
recht zu der Fülle des Körperteils, der mit ihnen die regsten Be 
ziehungen unterhält. Es ist, als würden sie nicht von den Menschen 
selber, sondern von ihren Röntgenbildern zum Sitzen benutzt. 
Manche von ihnen beschreiben so kühne Schnörkel, als seien sie 
Tänzer, andere benehmen sich kleinbürgerlich und genormt. Wahr* 
scheinlich halten sie bald ihren Einzug, in die Drei- und Vier 
zimmerwohnungen, die dann ein Stahlbad sein werden wie einst 
der Krieg. S. Krakauer. 
Sozialistische Städte. 
Zu einem Vortrag von Ernst May. 
Berlin, im Zum. 
Im überfüllten Saal des Herrenhauses hielt Ernst May am 
Freitag abend einen vom internationalen Kongreß für Neues 
Bauen verunstalteten Vortrag über den Bau neuer Städte 
i n S 0 w j e L r u ß l a n d. Er ist gerade aus Moskau zurückgekehrt 
und wird seinen Urlaub in Deutschland verbringen. Unsere Leser 
find durch Mays eigene Aufsätze bereits über die gewaltigen Auf 
gaben unterrichtet, die er mit dem Stab seiner Mitarbeiter in 
Rußland zu lösen hat. Ich begnüge mich also mit der Wiedergabe 
der Leitgedanken, die er in seinem außerordentlich lehrreichen Vor- 
trag umriß. Vorauszuschicken bleiben nur einige unmittelbare Ein 
drücke. Vor allein der, daß May mit großer Kühnheit und Folge 
richtigkeit aus den politischen Grundsätzen die städtebaulichen ent 
wickelt. Ferner der: daß er über die nötige Stoßkraft verfügt, um 
das Erkannte in der Wirklichkeit durchzusetzen. Die Erfahrungen, 
die ihm seine einzigartige Praxis zusührt, werden auch Deutschland 
später zugute kommen. 
Trennung der Industrie- und Wohngebiete, zweckmäßige Ver 
kehrsregelung und Einschaltung der erforderlichen Grünflächen: 
diese elementaren Richtlinien des kapitalistischen Städtebaus gelten 
selbstverständlich auch für den sozialistischen. Bei ihrer Anwendung 
beginnen sich aber sofort die Unterschiede fühlbar zu machen. So 
sind die städtebaulichen Projekte in Rußland nicht mehr an die 
Bodenpreise oder den Markt geknüpft, sondern hängen allein von 
der Lage der ProduktionsstätLen, sozialhygiemschen Erwägungen 
und der recht verstandenen Wirtschaftlichkeit ab. Dann wird in 
Uebereinstimmung mit dem Fünfjahresplan, der eine Dezen 
tral i sa L ro n der Bevölke r u n g vsrsieht, prinzipiell 'davon 
Abstaud genommen, neue Großstädte, das heißt Städte von über 
150 000 Einwohnern, zu errichten. Eine von Lenin gebotene Be 
schränkung, die im Interesse der Beseitigung dörflicher Einsamkeit 
erfolgt. Sie geht auf das Kommunistische Manifest zurück, das 
nachdrücklich die Aufhebung des Unterschiedes von Stadt und Land 
verlangt. 
Zwei Stadtitzpen werden in der Hauptsache ausgeführt. Einmal 
die Band-Stadt. Dort, wo sie überhaupt in Betracht kommt, 
Läuft sie hinter einer Grünfläche parallel mit dem jeweiligen 
Industrie-Kombinat, in dem die Arbeit am fließenden Band erfolgt. 
Durch diese Anordnung'wird der Einwohnerschaft ein kurzer und 
gleichmäßiger Arbeitsweg zur Fabrik gewährleistet. Zum andern 
baut man T ra ba n t e n -S tä d ts, die sich satellitenartig um 
das Kulturzentrum gruppieren und vor den Band-Städten den 
Vorteil haben, immer erweiterungsfähig Zu sein. May hat diesen 
Zweiten Typus auch für Moskau in Vorschlag gebracht. 
Die Gliederung der Siadt ergibt sich aus der kommunistischen 
Grundthese, nach der alle menschlichen Arbeitskräfte in den Dienst 
des Gemeinwohls zu stellen sind. Diese Maxime enthält die Forde 
rung der Frauenarbeit, deren Verwirklichung wiederum die 
Uebernahme der Kindererziehung und der Er 
nährung durch die öffentliche Hand zur Folge 
haben muß. Es ist darum nur konsequent, daß beim Entwurf der 
neuen Städte besondere Rücksicht auf die praktische Anordnung und 
die genügende Zahl von Krippen, Kindergärten und Schulen ge ¬ 
nommen wird. Ost liegen sie auf den 200 bis 250 Meter breiten, 
auch Zu DemonstraüonsZwecken bestimmten Grünflächen Zwischen 
den Häuserblocks. Sorge getragen wird ferner gleich von vornherein 
dafür, daß jedes „Quartal" — d. L. ein Wohnbezirk, der ungefähr 
8000 bis 10 000 Menschen umfaßt — seine Küchen und Speise 
anstalten erhält. Sie werden meistens durch das Ernährungs 
Kombinat der Stadt mit Halbfabrikaten beliefert. Außer den 
an einem hervorragenden Punkt gelegenen Kultur- und Verwal 
tungsgebäuden, die der Gesamtheit dienen, sind noch den einzelnen 
Bezirken Klubs zuaeteilt. Die Hochschulen rücken, ganz im Gegen 
satz zu den in kapitalistischen Ländern verbreiteten Tendenzen, mög 
lichst dicht an die Fabrik heran, damit das Bedürfnis nach Absonde 
rung gar nicht erst aufkommen kann.
	        
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