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fullscreen: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Betrogene Jugend. 
Won Albert Lamm. 
Vorwort der Redaktion 
Die Erwerbslosigkeit ist zum Dauerzustand geworden« Wie 
rasch und bis zu welchem Grad sich dieser Zustand bei einem 
Konjunkturaufschwung ändern wird, steht dahin. Zweifellos ver 
streicht aber auch im besten Falle noch eine geraume Zeit über 
hie Wiedereingliederung der Massen in den Arbeitsprozeß. 
Zu leiden unter den schwer wandelbaren Verhältnissen hat vor 
allem die erwerLslose Iugend Ganze Jahrgänge Jugend 
licher, deren Recht und Pflicht es wäre, sich eine Stellung im 
Leben zu erobern, harren vor verschlossenen Türen. Ist die 
ältere Generation immerhin noch im Besitz von Erinnerungen, 
so dürfen sie nicht einmal Hoffnungen nähren, sondern werden 
zuM alten Eisen geworfen, obwohl sie doch funkelnagelneu glän- 
zen^ Und vorenthalten bleibt ihnen gerade das, wonach sie, ihrem 
Entwicklungsstädium gemäß, mit Leib und Seele verlangen: eine 
Tätigkeit, die ihrem Dasein eine Art von Sinn zu geben vermöchte. 
Has Outsidertum, Zu dem sie ohne ihre Schuld verdammt sind, 
ist aber um so bedrohlicher, als es an jener allmählichen Ver 
schmelzung mit der Gesellschaft verhindert, die sich von rechtswegen 
nach den Schuljahren vollziehen müßte, We wachsen nicht, wie es 
ihren eigenen und den gesellschaftlichen Notwendigkeiten entspräche, 
in die Arbeitsmethoden, Gesetze, Spannungen und geistigen Ueber 
lieferungen des Volksganzen und der ihnen zubestimmten Schichten 
hinein — sie stehen draußen wie Verbannte in einem abseitigen 
Raum. * 
Was weiß man von ihnen? So gut wie nichts und jedenfalls 
kaum mehr als dies: daß sie, die abgeschnürt vom Leben sind, 
das allein Leben heißen darf, mit einer begreiflichen Willfährig 
keit den politischen Rattenfängern Gefolgschaft leisten, die ihre 
Unerfahrenheit und ihren Tatendrang zu nutzen verstehen. Und 
Loch käme es darauf an, tiefer in diese Welt einzudringen, die sich 
neben der eigentlichen neu gebildet, hat. Denn überläßt man sie 
immer weiter sich selbst und einer verderblichen Agitation, so ver 
härtet sie sich mehr und mehr, und die in ihr sich regeMen Kräfte 
werden vollends an sich und an der Gesellschaft verzweifeln. Schon 
sind wir diesem Punkt bedenklich nahe ,gerückt. Und wenn es nicht 
bald gelingt, die unerträgliche Lage ü>er Erwerbslosen, durch ge 
eignete Maßnahmen erträglicher Zu gestalten, ist -das Gesamtleben 
der Gesellschaft gefährdet. 
Voraussetzung solcher Maßnahmen ist die Vertrautheit mit 
denen, deren Lage gebessert werden soll. In der Absicht, auf die 
betreffenden Zustände aufmerksam zu machen und so ihre Ver 
änderung einzuleiten, veröffentlichen wir im folgenden Auszüge 
aus einem (demnächst im Bruno-Cassirer-Verlag erscheinenden) 
Manuskript, das über die Lebensumstände der erwerbslosen Ju 
gend unterrichtet. Sein Verfasser ist Albert Lammein 
Äetzefinnter, tätiger Mann, der laWL Jahre in SüddeuLWaM 
lebte und Lmpfts und dann nach Berlin verzog. Warum? Weil 
er zu denen gehen wollte, „deren Leidensweg am Ende angelangt 
ist, die an das Zeitalter der Maschine sich selbst verloren hatten 
und nun auch von diesem abgeschoben waren ins Nichts: Zu den 
Erwerbslosen. Unter diesen aber Zur erwerbslosen Jugend. Denn 
nur Lei der Jugend kann ein neuer Lebenswille noch mit so viel 
Unbefangenheit sich äußern, als aller Schutt der Urteile, von 
mals es zuläßt, -7- gerade weil hier Erfahrung zum Vergleichen 
und. damit Verleitung zum bloßen Widerspruch fehlte Um diese' 
Jugend kennen Zu lernen und ihr Zu helfen, verschaffte sich Lamm 
eine Stelle als Zeichenlehrer an einem Jugendheim 
für Erwerbslose, das vor kurzer Zeit. geschloffen wurde.. 
Der Wert der Einblicke, die er hier erhielt, wird noch durch den 
der Haltung erhöht, mit dD er dem Uebermaß der Not entgegen- 
zutreten sich bemühte. 
Kurort Merlin 
. »E, im- IM 
Denn Berlin heute die Menschen starker als je verbraucht, so 
bemüht es sich doch auch doppelt um ihre Auffrischung, damit sie 
sich dann wieder besser verbrauchen können. Und diese Fürsorge 
ist bereits so weit gediehen, daß man die Erholung nicht einmal 
mehr in Wannsee suchen muß, sondern sie in der Stadt selber 
findet, dort, wo die Unruhe am größten ist. Lauter kleine, ihr 
dienstbare Oasen sind während der letzten Monate entstanden. Sie 
liegen mitten in der Krise und dem Wahlkampf und nur einen 
Schritt von den nächsten Sträßenkämpfen entfernt. 
So ist zum Beispiel der Dachgarten eines Hochhauses gegen 
über dem Anhalter Bahnhof ganz der Erholung gewidmet. Man 
durchstiegt im List zehn Stockwerke, in denen das Geschäftsleben 
wo nicht Müht, so doch vegetiert, und erreicht eine Plattform, 
die den Rang eines Höhenluftkurorts beanspruchen darf. Denn 
sie ist nicht einfach eine asphaltierte Rechtecksfläche, sondern eine 
Art künstlicher Alm» Saftige grüne Wiesen dehnen sich unmittel 
bar über den stickigen Büros, und aus dem Erdreich der Kassa 
bücher und Akten sprießt eine üppige Flora in zahllosen Kübeln" 
empor. Hier scheint die Sonne leuchtender als drunten in der 
Liefe, hier weht der Wind wie um Gipfel. Der besondere Zauber 
dieser tzimmelslandschaft besteht aber darin/ daß sie eine Menge 
Liegestühle enthält, die zur kostenlosen Benutzung sreigegeben 
sinh. Wer Will, kann in ihnen von früh bis in die Ncht hinein 
die Zeit vertrödeln, wenn er sie hat, und sich einbilden, auf der 
Terrasse eines Luftschlosses zu weilen. Zwar erblickt man von 
ihr-aus nur Berlin, das man kennt, aber ein anderes als das 
bekannte, dem man glücklich entronnen ist» Fremd wie ein 
blaues Tellergemälde schimmert die Stadt. Ihre Armut, ihre 
Erwerbslosen und ihre politischen Wirren werden durch die 
Dächer verborgen, die sich nach allen vier Himmelsrichtungen 
erstrecken und in eine leichte Dunsthülle getaucht sind, der allein 
die Kuppeln, Türme und Hochhäuser entsteigen. Ist das noch 
Berlin? Nicht die Stadt selber,^ ihr unwirklicher 
Glanz dringt zu den Liegestühlen hinauf -- ein Glanz, der sich 
Von den Straßen und Plätzen abgelöst hat und den reinsten 
Sommerfrischenfrisden verbreitet. Die Kurgäste laben sich an 
dem Frieden, lassen sich bräunen und genießen das Panorama, 
aus dem . sie stammen, wie eine M sie nie durch ¬ 
messen werden. Um die Illusion noch vollkommener zu machen, 
steht ihnen überdies ein Fernrohr zur Verfügung, das nicht so 
sehr die Annäherung der Schaüobjekte als Me Versetzung in ein 
entlegenes Jenseits bezweckt. 
Diese der Erholung günstige Abgeschiedenheit wird auch aus 
ebener Erde neuerdings zu erreichen versucht. Merdings ist die 
Sehnsucht nach ihr im StraßMN schwerer zu befriedigen als 
hoch über den Dächern, und es bedarf schon besonderer Vorkeh 
rungen, um sie hier unten ungetrübt zu verwirklichen. Ein vor 
kurzem eröffnetes Cafe, das dicht neben einem Verkehrszentrum 
liegt, vermittelt seinen Gästen dadurch die gewünschte Entspan 
nung, daß es sie in einen submarinen Naturschutz 
park verpflanzt. Zwischen den einzelnen Tischen sind leuchtende 
Glaskästen ausgestellt, in denen die merkwürdigsten Fische sorglos 
herumschwimmen. Sie nahen Ar rauschenden Gewändern, schillern 
in bunten Färben und tragen schwierige lateinische Namen, M 
für alle Fälle auf.kleinen Schildern verzeichnet sind. Aber man 
muß zum Glück ihre Namen nicht auswendig lernen, sondern 
braucht nur die Bewegungen zu verfolgen, die diese Unterwaffer- 
gsschöpfe vollführm während man sie unaufhörlich und sinn 
los an bleich Farnen vorbeiziehen 
ficht, beginnt man selber von der Oberwelt zu genesen. Das Bei 
spiel der innerlich erhellten Aquarien verführt sämtliche Herzen, 
und es ist, als ließen sie sich allmählich von der stummen Weisheit 
der Fische erfüllen. VM sich' die Gäste, auch darum 
der Ruhe so willfährig hin, weil ihnen durch das Treiben in den 
perlenden Gewässern die Aussicht auf die Nachb^rtische verdeckt 
wird. Die gläsernen Wände verwehren den Gesichtern, 
ihnen aufsteigen wollen, schreckhaft deutlich zu werden, und machen 
hie Worte unhörbar. So bleibt man allein in der Gesellschaft der 
schweigsamen Wesen zurück und ist ihnen nachzueifern genötigt. 
Himmel und Meeresgrund liegen mitten in Berlin. Und ich 
weiß nicht, was wunderbarer ist: daß man gar nicht erst verreisen 
muß, um in ihren Höhen und Tiefen wie in Kurorten Erholung 
Zu finden oder daß man von der langen Reise nach diesen uner 
meßlichen Fernen mit einer Plötzlichkeit ohnegleichen zurückkehren
	        
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